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Kostümbild – Der Stoff, aus dem die Kinoträume sind

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Visual & Special Effects – Der Griff in die Trickkiste

Die Stadt der Zukunft

Wie die Filmarchitekten Otto Hunte und Erich Kettelhut die Vision von METROPOLIS schufen.

„Die Grundidee war, eine Stadt zu bauen, die grösser ist als alles was man kennt. Hochhausbauten, die sich aneinander quetschen und übereinander türmen.”

Interview mit Rainer Rother

Es war das größte Projekt, das bis dahin in Deutschland gedreht worden war: Der monumentale Science-Fiction-Film METROPOLIS von Fritz Lang, der im Jahr 1926 seine Uraufführung erlebte. Mehr als die kolportagehafte Geschichte von Ober- und Unterwelt, Kapital und Arbeit, Reich und Arm beeindruckte schon damals das Szenenbild der Filmarchitekten Otto Hunte und Erich Kettelhut. Ausgehend vom expressionistischen Stil, insbesondere in der Licht-Schatten-Gestaltung, entwarfen sie eine gigantische Zukunftsstadt, die noch heute die Architekturdiskussion beeinflusst.

Die Szene
Der Fabrikantensohn Freder (Gustav Fröhlich), der abgeschirmt in der reichen "Oberwelt" lebt, besucht zum ersten Mal die "Maschinenwelt" der Arbeiter und wird Zeuge eines Unglücks. Eine mit Dampf betriebene Riesenmaschine überhitzt sich durch die Überforderung der Maschinisten, eine Explosion fordert Opfer – und inmitten dieses Chaos zeigt die Maschine plötzlich ihr wahres Gesicht als menschenfressender "Moloch".

Der Künstler

Otto, geboren 1881 in Hamburg, studierte Architektur und Malerei und wurde danach beim Film nicht nur Szenenbildner, sondern auch Kostümbildner (u.a. DAS INDISCHE GRABMAL). Er zeichnete sich für die Bauten der meisten Fritz-Lang-Filme in Deutschland verantwortlich und war bei METROPOLIS der Leiter des Teams. Erich Kettelhut, geboren 1893 in Berlin, absolvierte eine Lehre als Bühnenmaler an der Städtischen Oper Berlin und begann im Jahr 1919 als Filmarchitekt zu arbeiten. Gemeinsam mit Otto Hunte und Karl Vollbrecht, mit denen er häufig zusammenarbeitete, entwarf er die Bauten für die exotische achtteilige Monumentalfilmreihe DIE HERRIN DER WELT. Neben METROPOLIS setzte Fritz Lang das Team unter anderem auch für DR. MABUSE, DER SPIELER und DIE NIBELUNGEN ein.

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In Deutschland entsteht plötzlich ein Riesenfilm mit nie gesehenen Visionen, nie gesehener Ausstattung und auch noch unvorstellbar teuer. Können Sie ein bisschen die Geschichte erzählen, wie es dazu kam? 

Der Ursprung für die Filmidee liegt sicher in der Amerikareise von Fritz Lang. Er war mit Erich Pommer dort, sie wollten sich die Produktionsmethoden in Hollywood anschauen. Sie sind natürlich mit dem Schiff gereist, mit dem Ozeandampfer, und lagen dann nachts in New York im Hafen. Fritz Lang hat sich von der Stadt sehr, sehr fasziniert gezeigt. Von den immensen Lichtreklamen, die es dort und von den Straßenschluchten, durch die er ging. Diese Vertikalen, die in New York zu erfahren waren, waren für Europäer schon was Ungewöhnliches. Und so kam es dann zu der Idee, etwas in dieser Richtung zu machen – einen Science-Fiction-Film über eine Stadt.

Haben wir diesem Film die Entstehung des Blockbusters zu verdanken?

Diesen Begriff gab es damals natürlich noch nicht, aber die Idee war der UFA nicht fremd. In dem Jahr, in dem METROPOLIS ins Kino kam, ist ein anderer großer Film produziert worden: FAUST, auch mit einem renommierten Regisseur, mit Friedrich Wilhelm Murnau, ebenfalls mit viel Tricktechnik – da ist viel, viel Geld investiert worden. Für die UFA waren das Prestigefilme, die mit den Namen der Regisseure und der Stars beworben wurden, und sich deutlich von der Durchschnittsproduktionen abhoben. Man hat sich das ein-, zwei-, allenfalls dreimal pro Produktionsstaffel geleistet, hat viel Geld reingesteckt und viele kreative Leute mit der Hoffnung angeheuert: Wenn wir viel Geld investieren, kommt auch entsprechend viel Geld rein. Das hat oft funktioniert, bei METROPOLIS allerdings nicht so ganz. Der Film war ursprünglich mit 800.000 Reichsmark kalkuliert, ist aber während der Dreharbeiten auf 1,6 Millionen hochbudgetiert worden. Aber das hat für anderthalb Jahre Drehzeit dann eben auch nicht gereicht. Angeblich hat der Film fünf Millionen Reichsmark gekostet und war bis zu diesem Zeitpunkt bei Weitem der teuerste Film der deutschen Filmgeschichte, gegen diese Zahl hat sich Lang jedoch verwehrt. Man weiß bis heute nicht genau, wie teuer der Film wirklich war. Und ich vermute, dass man es damals auch gar nicht mehr so genau wissen wollte.

War es eine Zeit, in der das Publikum auf neue visuelle Effekte, großartige Leinwandbilder, weite Totalen begierig war?

Ich glaube schon, das war ja die Zeit des Stummfilms. Der Film musste mit allen visuellen Mitteln erzählen. Und man konnte es ganz konventionell machen, Komödie drehen oder irgendein Genre bedienen, das hat auch ein Publikum gehabt. Das war ein Publikum, das z.B. an den Geschichten oder an den Darstellern interessiert war. Aber wenn man etwas Besonderes haben wollte, war es damals so, wie es später in der Filmgeschichte auch oft war: Man muss etwas Spezielles zeigen. Man muss z.B. besonders imposante Kulissen haben, das konnte die UFA sehr gut. Auf dem Freigelände in Babelsberg sind wirklich grandiose Kulissen für ganz verschiedene Filme gebaut worden, das Mittelalter genauso wie die Antike oder dann eben die Zukunft wie in METROPOLIS. Da spielte diese Faszination, der Schauwert, eine ganz große Rolle.

Fritz Lang hat damals erklärt, er sei sehr an der Architektur, den Massenszenen, an den großen Abläufen interessiert. Aber wie ist die Story, die dazugehört, entstanden?

Die Story hat Thea von Harbou geschrieben, mit der er damals verheiratet war. Als Lang dann in den sechziger Jahren erfahren hat, dass Lotte Eisner ein Buch über den deutschen Stummfilm schrieb, hat er ihr geschrieben: Er könne gut verstehen, dass Lotte Eisner mit diesen Geschichten von Thea von Harbou gar nichts anfangen könne, und er könne auch gut verstehen, wenn sie jetzt die ganze Schuld für das Misslingen des Films auf die Drehbuchautorin abwälze. Aber schließlich sei er der Regisseur, und er könne sich von Schuld auch nicht freisprechen. Ich glaube, es war ihm schon bewusst, dass seine Faszination am Bildlichen, am Visuellen, auch am Neuen – es ist ja unglaublich viel erfunden worden für METROPOLIS –, dass das mit einer massenwirksamen Geschichte transportiert werden musste, die eben so toll nicht war. Aber in der Zeit war ihm das völlig egal. Hauptsache, es war ein Stoff, der ihn interessierte, der Bilder imaginieren konnte, und etwas, was Spannung versprach.

Weiß man etwas über die Entstehungsgeschichten dieser grandiosen Architekturwelten? Hat Fritz Lang ein paar Striche hingezeichnet, und andere haben es gebaut? Oder gab es noch andere Visionäre, die dazu gestoßen sind?

 war schon – Klaus Kallmeyer hat das mal so genannt – eine Bauhütte. Ich finde, das ist ein wunderbares Bild, also etwas, was aus allen Gewerken zusammenkommt. Bauhütte ist ja das Prinzip Kathedrale. Man baut Jahrzehnte, manchmal über hundert Jahre, und es müssen ganz viele verschiedene Berufe einbezogen werden. Sie erfinden, während sie so eine Kathedrale bauen, auch das Aussehen der Kathedrale. So ähnlich hat die frühe Filmgeschichte in Deutschland funktioniert – die UFA war eben auch eine Bauhütte. Da sind alle möglichen Leute involviert gewesen – die Kameraleute, die Architekten. Es ist nicht so gewesen, dass Fritz Lang ein paar Skizzen angedeutet hat, wie es gebaut werden soll, und dann ist das umgesetzt worden. Sondern die Architekten Kettelhut und Hunte haben eigene Ideen entwickelt, auch viel gezeichnet und viel gebaut – Sperrholzbauten müssen dann z.B. für METROPOLIS-Hochhäuser herhalten. Das ist oft learning by doing gewesen: wie z.B. ein Stopptrick richtig gemacht wird, damit die kleinen Modell-Flugzeuge, im Vergleich zu der Bewegung der Autos, Eisenbahnen und Fußgänger in der richtigen Geschwindigkeit durchs Bild fliegen.

Wenn man den Film anschaut, fühlt man eine gewisse Atmosphäre: Alles, was wir uns ausdenken können, können wir technisch irgendwie umsetzen. Herrschte damals ein solcher Pioniergeist?

Ja, ganz bestimmt. Das war wirklich eine Phase, in der ein bisschen ausprobiert wurde. Das hatte auch damit zu tun, dass es eigentlich keine Produktionskontrolle, oder einen Produktionsleiter gab. Das hat die UFA aus den Erfahrungen lernend erst später eingeführt. Für die Umsetzung einer brillanten Idee hat man sich auch Zeit gelassen, damit sie gut realisiert wurde. Das hat dann auch schon mal zwei Wochen gedauert, bis ein paar Sekunden im Kasten waren. Das ist natürlich unter ökonomischen Kriterien verheerend, aber wenn man sich die Special Effects, wie man heute sagen würde, in METROPOLIS anschaut, dann muss man sagen: Irgendwie hat sich es sich gelohnt.

Die Stadtlandschaften, diese gewaltigen Panoramen, die dort entworfen wurden: Gab es eine Art Mastermind, der das alles im Kopf hatte, der sich selber schon eine Zukunft erträumt hatte? Oder ist das alles im Kollektiv entstanden?

Ich glaube, das ist ein Film, bei dem sehr viel im Kollektiv entstanden ist. Kettelhut und Hunte, die beiden Architekten, haben sicher das Ihrige dazu beigetragen. Die Grundidee war, eine Stadt zu bauen, die größer ist als alles, was man kennt: Hochhausbauten, die sich aneinanderquetschen und übereinandertürmen. Das ist ja ein Beispiel, das Schule gemacht hat. Ähnlich ist es ja auch in BLADE RUNNER. 

Kann man sagen, dass die New York-Idee, das Leben in die Vertikale zu verlegen, in METROPOLIS noch einmal auf die Spitze getrieben wurde?

Ja, das hängt natürlich auch ein bisschen mit der Symbolik zusammen, die der Film transportieren wollte: oben die Reichen, unten die Armen. Filmisch lässt sich das ja ganz gut machen. Ein zeitgenössischer Kritiker hat darüber mal geschrieben: Wenn man reich ist, ist das dann wirklich der schönste Ort zu leben, in den Dachgärten über dieser Stadt? Das ist natürlich keine realistische Idee, man würde lieber in einen beschaulichen Vorort, möglichst mit Strand und viel Sonne, ziehen. Aber das ist eine Konsequenz aus dieser Idee des Films.

Es kommt noch ein weiteres Element dazu, das ein bisschen aus dem Schauerfilm und aus gotischen und mittelalterlichen Fantasien stammt. Wie kamen die drei Welten – Oberwelt, Unterwelt, alte Welt – zusammen?

In der jetzigen Version fehlt ja eine ganz entscheidende Geschichte, nämlich die Konkurrenz zwischen Rotwang, dem Erfinder, und Fredersen, dem Herrn über die obere Stadt. Sie haben in ihrer Jugend die gleiche Frau, Hel, geliebt, wurden Konkurrenten und haben sich deswegen auch entzweit. Nun wird die Oberwelt, die glamouröse Welt der Kapitalisten, Fredersen zugeordnet, und Rotwang wird optisch abgesetzt, indem er in ein ganz altes städtisches Ambiente gezeigt wird. Sein Laboratorium ist im Grunde ja Mittelalter, so der Dom. Das ist einerseits auch nicht ganz so unrealistisch, dieses Nebeneinander von Alt und Neu in einer Stadt, aber es wird im Film noch mal durch die Konfrontation Rotwang – Fredersen symbolisch aufgeladen. Damit kommt natürlich eine bestimmte Tradition des deutschen Stummfilms gut zur Geltung: diese romantische, oder besser romantisierende Tradition. 

Gleichzeitig aber zeigt der Film natürlich auch eine Zukunftsvision. Es heißt, dass viele Dinge so wie Roboter, Monorail-Eisenbahn und solche Sachen in diesem Film erstmals vorgestellt wurden.

Ja, das stimmt. Die einzelnen Erfindungen, wie z.B. das Bildtelefon, das waren schon tolle Ideen: Diese Details des Fortschreibens der Technik, dass Flugzeuge durch die Straßenschluchten fliegen, dass für die damalige Zeit modern aussehende Autos, Eisenbahnen und riesige Fußgängerbrücken koexistieren, um die Verkehrsströme zu bewältigen. Das sind wunderbare Einfälle, die man sich heute vielleicht in Hongkong oder Shanghai vorstellen würde. Das ist im Film schon sehr überzeugend gelungen.

Weiß man, wer es war, der sich mit der Zukunft so intensiv beschäftigt hat? Der sich gefragt hat: Wie könnte die technische Entwicklung weitergehen?

Das ist mir nicht bekannt. Sicher hat Thea von Harbou schon ein bisschen ins Drehbuch hineingeschrieben. Die Erfahrungen von Fritz Lang spielen aber sicher auch eine große Rolle, als er in den Straßen von New York plötzlich diesen immensen Verkehrsfluss erleben musste – also ein bisschen mehr noch als Potsdamer Platz in Berlin wahrscheinlich.

Was weiß man über die Arbeit der Filmarchitekten? Waren die fest angestellt? Mussten die einen Film nach dem anderen ausstatten? Welche Arbeitsbedingungen hatten die?

In der Regel haben sie entweder Jahresverträge gehabt, oder sie sind für einzelne Projekte engagiert worden. Und Kettelhut hat in beiden Formen für die UFA gearbeitet. Es gab auch einen ganz festen Stamm von Mitarbeitern im Studio, nicht nur für Fritz Lang – Otto Hunte und Kettelhut haben für viele Filme von Fritz Lang die Bauten gemacht. Es gab für die verschiedenen Bereiche Leute, die man kontinuierlich beschäftigt hat. Das galt auch für die Kameraleute und Kostümbildner. Es war ein regelrechtes Studiosystem.

Sie sagten, Kettelhut und Hunte haben viel für Fritz Lang gearbeitet. Konnte man damals als Filmarchitekt, bzw. Szenenbildner schon so eine Art Star sein? Oder hat das niemand beachtet, wurde alles auf den Regisseur überschrieben?

Es wurde schon sehr viel auf den Regisseur überschrieben. Es ist in den zeitgenössischen Rezensionen auch selten der Szenenbildner genannt worden. Die Szenenbildner mussten sehr unterschiedliche Aufgaben bewältigen, das gehört ja zum Berufsbild. Sie konnten sich nicht auf Zukunftsbauten spezialisieren, sondern mussten genauso das Mittelalter oder den Hinterhof bauen können. Diese Qualifikation hatten die beiden sicher, deswegen sind sie bei der UFA auch so oft beschäftigt worden. Aber weil sie alles bauen konnten, konnten sie auch keine eigene Handschrift entwickeln. Die sollten sie auch gar nicht haben, sie sollten in Zusammenarbeit mit dem Kameramann und dem Regisseur das, was visuell im Stoff steckte, realisieren. Je besser und flexibler sie das konnten, desto wertvoller waren sie natürlich für das Studio. Desto seltener wurden sie aber – das ist eigentlich wie heute – als die kreativen Künstler, die sie wirklich waren und sind, wahrgenommen.

Der Film hat ja in seiner längeren Rezensionsgeschichte sehr viele Designer und Architekten beeinflusst. Ist den Schöpfern der damaligen Bauten und des Szenenbilds später auch Anerkennung dafür widerfahren?

Anerkennung ist ihnen auf jeden Fall in der Filmgeschichte widerfahren. METROPOLIS wird ja von anderen Filmen zitiert, insbesondere von Science-Fiction-Filmen. Es gab einen englischen Film, der nur ein paar Jahre später in die Kinos kam, der diese Idee der Bildtelefone aufgriff und auch diese utopische Stadt versucht hat zu realisieren. Es gibt Popkünstler wie Madonna, die Anleihen an den Film in ihren Videoclips verwenden. Da gibt es eine ganz große Wertschätzung der Arbeit, die damals geleistet wurde. Es ist allerdings eine Wertschätzung, die sich fast ausschließlich auf diese architektonischen Ideen bezieht.

Sprechen wir über die Szene, die wir auf www.vierundzwanzig.de zeigen: Der reiche Erbe kommt in die Unterwelt, die Welt der Arbeiter. Was sollte er da sehen? Was für ein Eindruck sollte da erzeugt werden?

Es musste natürlich düster werden. Es sollte ärmlich und bedrohlich wirken. Das ist dann auch seine erste Erfahrung, wenn er an die Stelle des Arbeiters tritt und dessen ermüdende Arbeit selbst vollziehen muss: Das geht an die körperliche Substanz, er bricht sozusagen zusammen.

Die Maschine ist riesengroß und in ihrer Funktion völlig undurchschaubar. Welche Ideologie sollte sie denn transportieren?

Es ist schon noch die alte: dass körperliche Arbeit sehr, sehr anstrengend und schmutzig ist. Von Kettelhut ist berichtet worden, dass die Inspiration für die Maschine, die Riesen-Dieselaggregate der Ozeandampfern waren. Es gibt auch überall diesen Dampf. Da haben sie beim Dreh übrigens Glück gehabt, weil neben dem Studio in Staaken eine Gasfabrik war, deren Abschusswärme und Dampf man direkt ans Set umgeleitet hat. Bei der Darstellung von Zukunft besteht auch ein Widerspruch: Denn es ist ja nicht eine Zukunft, die eine lineare Weiterentwicklung sein soll. Es ist eine Zukunft, die aufgeladen ist mit den Konflikten der Gegenwart, auch mit den Klassenverhältnissen der Gegenwart – und damit auch von dem bestimmten Begriff von Proletariat.

Könnte man sagen, es ist auch ein Element von Entfremdung dabei? Der Einzelne weiß nicht mehr, warum er irgendwelche Zeiger bewegen muss und was die Maschine überhaupt macht?

Der Einzelne erscheint auch gar nicht als Einzelner. Freder Fredersen ist sozusagen der Einzige, der den Einen ersetzt, der die Zeiger bewegt. Aber alle anderen marschieren in Massen, werden in Gruppen in diesen Moloch hineingestoßen, sie müssen mit dem Fahrstuhl hinunterfahren, arbeiten. Es ist eine Massengeometrie. Das hat Lang sicher fasziniert, Ornamente mit den vielen Komparsen herzustellen, gerade nachdem er bei den NIBELUNGEN auf einen ähnlichen bildlichen Fundus zurückgegriffen hat.

Die Massen sind fast selbst schon ein Teil der Maschine und können sich nur noch roboterhaft bewegen.

Sie gehen auch im Gleichschritt, es ist wie ein einziger Organismus, zusammengesetzt aus Individuen, die als solche aber nicht interessieren. Nur in der Gruppe sind sie für den Moloch sozusagen funktional. Nur als Gruppe können sie ein Rädchen werden im Getriebe.

Können Sie den Moment beschreiben, da der Moloch dann sozusagen sein wahres Gesicht zeigt?

Kettelhut hat die Maschine zweimal gebaut, einmal die funktionierende Maschine, und den menschenfressenden Moloch. Der Moloch ist wirklich ein ganz archaisches Bild: das sieht aus, als ob Zähne die Massen zermalmen, zerkauen, verdauen. Das ist natürlich ein unheimlich starkes Bild, es ist auch ein beängstigendes Bild, wenn man die Hineingetriebenen sieht und weiß: Die verschwinden auf Nimmerwiedersehen in diesem Mechanismus.

Gibt es literarische Vorbilder oder Vorbilder aus der Kunst, auf die Kettelhut sich berufen konnte?

Explizit sicher nicht, aber bei Goya gibt es diesen menschenfressenden Riesen, der den armen Menschen den Kopf abbeiß. Das wird sicher eine ganz große Rolle gespielt haben. Es ist die Bilderwelt der Schreckensszenarien. Möglicherweise spielt auch der Erste Weltkrieg ein bisschen hinein, weil dieses Marschieren in den Untergang natürlich eine Erfahrung ist, die eine ganze Generation geteilt hat.

Könnte es sein, dass es eine Reaktion ist auf die Techniken der industriellen Massentierschlachtung in Amerika? Das Thema hat die Menschen jener Zeit ja sehr bewegt.

Ja, das kann sein. Das ist durch den Roman "Der Sumpf" von Upton Sinclair, der vom kommunistischen Malik-Verlag vertrieben wurde, durchaus in der Zeit bekannt gewesen. Ein Roman, der ja später auch Brecht zur ”Heiligen Johanna der Schlachthöfe” inspiriert hat. Da ist diese Vernichtung auf ganz großem Niveau recht zynisch dargestellt. Bei Upton Sinclair gibt es diese Aufladung mit Sozialrealismus und mit Sozialkritik. Das, finde ich, ist in METROPOLIS sogar noch ein bisschen zurückgenommen gegenüber diesem Vorbild, wenn es denn eines ist.

Handelt es sich bei dem Moment, in dem der Moloch sichtbar wird, um eine klassische Überblendung?

Ja, das ist ein kompliziertes Verfahren, das Schüfftan-Verfahren. Das funktioniert mit einer Einspiegelung, sodass es eigentlich keine Überblendung ist. Die Marschierenden werden in einer realen Szene gefilmt, und im Spiegel wird über einen 45-Grad-Winkel dieser Moloch, dieser verfremdete Moloch, in das Bild hineinkopiert. Das ist ein Trick, der vor der Kamera entsteht und nicht in der Nachbearbeitung. Das ist eine wahnsinnige Koordinierungsarbeit, weil die beiden Bilder aufeinander abgestimmt sein müssen.

Zu den Massenszenen gibt es tolle Gerüchte. Es kursieren unglaubliche Zahlen, was die Komparsen betrifft. Außerdem seien sie richtig versklavt worden, bis alles so aussah, wie Fritz Lang es wollte. War das wirklich so?

Sicherlich war Fritz Lang ein Tyrann auf dem Set, der sehr genau wusste, was er wollte. Es stimmt: Er konnte zu relativ günstigen Konditionen viele Komparsen bekommen, denn damals herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit. Die UFA hatte aber durchaus Erfahrungen mit Streiks von Komparsen. Das heißt: Man musste sie gut behandeln, wenn man nicht wollte, dass sie einfach die Produktion lahmlegten. Sie sind also bezahlt worden, nicht übermäßig, aber normal für die damalige Zeit. Und die enormen Zahlen, die da genannt werden – fünfundzwanzigtausend männliche, elftausend weibliche Komparsen –, gehören, glaube ich, zu der Werbestrategie, die den Film eigentlich retten sollte. Man wusste, er hat fünf Millionen gekostet, das war nur sehr schwer wieder einzuspielen, schon gar nicht allein auf dem deutschen Markt. Und so hat man eine sehr amerikanische Strategie benutzt: Man hat einfach mit den hohen Kosten, des vielen Komparsen und den Unmengen an Material, die eingeflossen sind geworben. Das war übrigens ganz ähnlich bei BEN HUR. Da hat man auch die Zahl der Komparsen und die Streckenrekorde, die während der Dreharbeiten von den Gespannen aufgestellt wurden, ausgebreitet. Das war eine clevere Idee, hat aber, wie wir wissen, bei METROPOLIS nicht wirklich funktioniert – der Film wurde ein Flop. 

Wie ging es weiter mit der Rezeptionsgeschichte?

Der Film ist in der ursprünglichen Fassung – in der er gedreht wurde und in der er von Fritz Lang und Thea von Harbou erträumt wurde – nur ganz kurz in den Kinos gelaufen. Als die Ergebnisse der ersten Aufführung nicht so waren, wie man sich das versprochen hatte, ist eine amerikanische Fassung hergestellt worden, weil er wenigstens auf dem amerikanischen Markt sein Geld einspielen sollte. Er ist um ein Viertel gekürzt worden, diese gekürzte Version ist dann auch in Wiederaufführung in Deutschland zum Einsatz gekommen. Und alle Rekonstruktionen, die es gibt, versuchen natürlich, von den fehlenden über tausend Metern dieses Films so viel wieder zu integrieren wie möglich. Dennoch wissen wir: Das Material ist vermutlich definitiv verloren. Dadurch, dass es das Drehbuch gibt und auch den Musikauszug und über achthundert Fotos, kann man aber die fehlenden Passagen wenigstens für eine Studienfassung – wenn man so will – ergänzen. Das ist ja auch geschehen. Man kann also ein vollständiges Bild nicht mehr gewinnen, aber man hat eine Möglichkeit der Annäherung an die Ursprungsversion. [Anm. d. Red.: Das Interview wurde Ende 2007 geführt. Anfang Juli 2008 wurden im Filmmuseum von Buenos Aires die verloren geglaubten Szenen von METROPOLIS wiedergefunden. Es handelt sich bei diesem sensationellen Fund mit großer Wahrscheinlichkeit um die komplette ursprüngliche Fassung von 1927.]

Warum, glauben Sie, ist der Film beim damaligen Publikum nicht angekommen?

Ich glaube, es ist dem Publikum gegangen wie Luis Buñuel. Nachdem er den Film in Paris gesehen hatte, sagte er: Ich hab eigentlich zwei Filme gesehen. Ich hab einen Film voller fantastischer Bilderfindungen und genialer Bildeinfälle gesehen, und war hin und weg. Dass das der Film kann, das hat mich begeistert. Und dann habe ich einen Film gesehen, der eine völlig belanglose Geschichte erzählt, die voller Klischees steckt, dass ich sie eigentlich nicht ertragen kann. Beides zusammen ist aber METROPOLIS. Ich finde es auch heute noch sehr schwer, ihn einfach nur zu wertschätzen. Natürlich ist es ein Meisterwerk, was das Visuelle und die Montage angeht. Inhaltlich ist er aber eigentlich ein Dreigroschenroman, der mit viel Geld produziert wurde. Ich kann jeden verstehen, der sagt: Wenn ich mir einmal angeschaut habe, dass das Herz der Mittler zwischen Hand und Hirn sein soll, dann reicht mir das auch, das muss ich nicht ein zweites Mal sehen. Das ist sehr, sehr verständlich. Auf der einen Seite ist der Film ist zu simpel, als Geschichte auch gar nicht packend oder emotional. Und dann hat er wieder Momente, wo man sagt: Wunderbar! Allein die Rettung der Kinder, als die Wasserfluten einbrechen, ist grandios.

Was zeichnet Ihrer Meinung nach einen guten Filmausstatter aus?

Sicher Fantasie und eine Vorstellungskraft, die sich auf die Bedingungen der Arbeit einlässt. Das hat Kettelhut auch mal ganz gut beschrieben, als er für ASPHALT Bauten herstellen musste. Er müsse bei seinem Job darauf achten, dass die Kamerabewegungen nicht behindert werden würden, und hat eigens für ASPHALT dann einen fahrbaren Aufnahmeturm entwickelt. Es gehöre aber auch dazu, dass man die Bilder, die man im Kopf hat, und die Bilder, die auf der Leinwand entstehen sollen, zusammenbringt und flexibel ist in dem, was man für die Geschichte und das Genre einbringen muss.

Gab es weitere Leistungen des Szenebildes im deutschen Film, die Ihnen in Ihrer Arbeit oder als Kinogänger besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Das ist schwer sich festzulegen. Beim Stummfilm gibt es sehr viele, FAUST haben wir schon genannt, CHRONIK VON GRIESHUUS. Ich finde aber, dass ein Film wie DAS BOOT, obwohl das jetzt komisch klingen mag, weil das ja eigentlich nur ein U-Boot ist, eine ganz grandiose Leistung ist, weil man plötzlich als Zuschauer diese Enge empfindet. Das ist nicht vielen U-Boot-Filmen gelungen, und das liegt genau an dieser Kombination eines gebauten Raums, der Kamerabewegungen ermöglicht, die uns diesen Raum auch in dieser physischen Enge so nahe bringen.

Und aus dem internationalen Kino, gäbe es da auch noch ein Beispiel?

Ja, ich hab vor gar nicht so langer Zeit DR. STRANGELOVE wieder gesehen. Es ist eine sehr mühsam hergestellte, restaurierte Fassung erschienen – finde ich sehr gut. Und wenn man diese Räume sieht, die Ken Adam da gebaut hat, natürlich vor allem den zentralen Raum, das War-Office, dann muss man sagen: Man kann Ronald Reagan verstehen, dass er enttäuscht war, als amerikanischer Präsident diesen Raum im Weißen Haus nicht vorzufinden.

Ein Satz, was Kino für Sie bedeutet?

Kino ist für mich eine Reise in eine andere Welt, die mich packt, fasziniert, irritiert, manchmal auch schockiert – neunzig Minuten ein anderes Leben.

Und wenn Sie nicht Filmhistoriker geworden wären – hätten Sie sich auch einen Beruf direkt beim Film vorstellen können?

Schwierige Frage. Vielleicht wäre ich ein halbwegs akzeptabler Pressesprecher bei einem Verleih geworden. Aber grundsätzlich denke ich, wenn man als Filmhistoriker arbeitet und sich mit Meisterwerken beschäftigt, dann muss man nicht vorgeben: Ich hätte das auch gekonnt. Ich hätte es nicht gekonnt.

Das Gespräch führte Tobias Kniebe.

 

 

Die Künstler

Otto Hunte, geboren 1881 in Hamburg, studierte Architektur und Malerei und wurde danach beim Film nicht nur Szenenbildner, sondern auch Kostümbildner (u.a. DAS INDISCHE GRABMAL). Er zeichnete sich für die Bauten der meisten Fritz-Lang-Filme in Deutschland verantwortlich und war bei METROPOLIS der Leiter des Teams.

Erich Kettelhut, geboren 1893 in Berlin, absolvierte eine Lehre als Bühnenmaler an der Städtischen Oper Berlin und begann im Jahr 1919 als Filmarchitekt zu arbeiten. Gemeinsam mit Otto Hunte und Karl Vollbrecht, mit denen er häufig zusammenarbeitete, entwarf er die Bauten für die exotische achtteilige Monumentalfilmreihe DIE HERRIN DER WELT. Neben METROPOLIS setzte Fritz Lang das Team unter anderem auch für DR. MABUSE, DER SPIELER und DIE NIBELUNGEN ein.

 

Der Experte
Rainer Rother, geboren 1956, lehrt Filmwissenschaft in Hannover, Hildesheim und Saarbrücken. Er ist Autor zahlreicher Biographien, unter anderem über Stanley Kubrick und Leni Riefenstahl. Von 1991 bis 2006 war er Leiter der Kinemathek des Deutschen Historischen Museums (Berlin). Seit 2006 ist er Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek Berlin und Leiter der Retrospektive der Berlinale.

In Kooperation mit filmportal.de

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Rainer Rother

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