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SPRACHROHR DES UNAUSSPRECHLICHEN

Die Filmkomponistin Annette Focks über die Herausforderung den Ton des Films zu finden.

„Der Klang der Musik bei POLL ist eine fremde tonale Welt für uns. Ich wollte damit das Archaische, das Düstere und Dunkle dieser Atmosphäre und Landschaft unterstreichen.”

Interview mit Anette Focks

Mit der Filmmusik verhält es sich ein wenig so wie mit den Dekors: Beide bemerkt man entweder als Mangel oder als Überfluss. Sie soll das Drama (oder die Komödie) beglaubigen und sich nicht in den Vordergrund spielen. Aber die Partituren von Annette Focks suggerieren nicht nur, was hinter und zwischen den Bildern geschieht. Sie schaffen selber Bilder: solche, die man hören kann. Ihre Leitsterne sind John Barry und Ennio Morricone, zwei Komponisten, die sich nicht damit zufrieden geben, das ihre Musik sich hinter dem verbirgt, was man auf der Leinwand sieht. Focks hat sich überwältigen lassen von den Bildern, die sie in POLL gesehen hat, und sie gibt diese Überwältigung an den Zuschauer weiter.

Die Szene

Die Exposition des Films: Ein Zug fährt durch die Abenddämmerung. Aus dem Off erzählt Oda von ihrem Vater und seiner besonderen Verbindung zum Tod, die er zeitlebens hatte. Die Musik, die durch die fremde Tonalität der Gamben bestimmt wird, steigert sich bis zu dem Bild, wenn der Ort des Geschehens, das Gut Poll, in voller Größe ins Bild kommt.

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Annette Focks, vielen Dank, dass Sie gekommen sind, um mit uns anlässlich von POLL über Ihr Gewerk Musik zu sprechen. Ich Sie zunächst bitten, ganz kurz die Handlung des Films zu schildern und die Szene, die Sie ausgewählt haben. In welchem Kontext steht sie?

Die Szene ist die Eröffnungsszene des Films. Man sieht am Anfang Grashalme, Schilf und hört Stimmen, bei denen man nicht erkennen kann, welche Sprache das ist. Dann kommt der Blick auf einen Zug, der lange durch die Landschaft fährt, durch eine sehr einsame Landschaft. In diesem Zug sitzt ein Mädchen namens Oda, die uns mit ihrer Off-Stimme in den Film einführt. Sie ist auch die Protagonistin des Films. Oda fährt mit dem Zug zu ebbo, ihrem Vater, der in Estland auf einem Gutshof lebt. Oda hat vorher längere Zeit in Berlin gelebt. Der Film bewegt sich im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Er spielt in Estland, dort leben viele Deutsche, die dem Zaren hörig sind – und es entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen der jungen Oda, die auf den Gutshof kommt, und einem Anarchisten, der verwundet ist und Unterschlupf sucht. Oda rettet ihn, pflegt ihn wie eine Erwachsene und es entspinnt sich eine Liebesgeschichte. Außerdem merkt man wie dieses Volk untergeht, man merkt, dass es die Vorwehen des Ersten Weltkriegs sind und am Ende beginnt auch der Erste Weltkrieg. Es ist sozusagen der Übergang in ein neues Zeitalter.

Was passiert musikalisch in der Szene?

Es ist die Exposition und es ist für mich auch der Moment, wo ich den Ton des Film setzen wollte. Das ist eigentlich das Wichtigste, den Ton des Films zu finden. Darum bin ich immer sehr bemüht und es dauert einige Zeit. Es hat auch etwas gedauert, bis ich dann die Idee hatte, mit Gamben zu arbeiten. Hier hört man sie in ihrer Reinform. Gamben sind die Vorläufer von Streichern. Ich habe mit einem Gambisten, Arne-Jochen de la Rosé, gearbeitet, der mit der ganzen Streicherfamilie der Gamben kam. Und so wie man das für ein Streichorchester setzen würde, hat er die ganzen Gamben eingespielt. Dieser Klang der Gamben ist sehr viel archaischer. Die Saiten sind viel dicker, das sind Darmsaiten – es gibt also viel mehr Materialwiderstand. Wir haben mitteltönig gearbeitet, das ist eine fremde Tonart, also eine fremde tonale Welt für uns. Wir haben auf 435 Hz gearbeitet. Ich wollte damit einfach gleich dieses Archaische, das Düstere und Dunkle und auch diese Weite der Landschaft mit der Instrumentation deutlich machen.

Eine Gambe ist doch eigentlich ein Instrument, das die große Zeit vor der Epoche hatte, in der der Film spielt, oder? Das ist doch so ein Rokoko-Instrument.

Genau. Aber es ging mir um die Klanglichkeit. Es ist ein Klang, der meines Erachtens zeitlos ist. Und dabei ist es kein reiner, schöner Klang. Er ist auch ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Es gibt Menschen, die ihn nicht mögen, weil er so ein bisschen reibt. Das Instrument hat für mich die Melodie- und Motivlinie bestimmt. Es ist kein Instrument, mit dem man große Melodien, große Amplituden schreibt, sondern ich habe gerade dieses Urthema von POLL sehr klein gehalten. Es ist mit Floskeln und ein kleiner Amplitus von fünf Tonschritten. Das Ganze ist sehr ursprünglich angelegt, dieses Thema auf jeden Fall.

Setzen wir mal die Zugfahrt mit ihrem ‚voice-over‘ als Anfang und als Ende dann den Schluss der Szene, bevor sie von Paul abgeholt wird. Es gibt so einen kurzen epischen Moment, in dem das Haus entdeckt wird durch die Kamera und die Musik das nachvollzieht. Beschreiben Sie doch bitte mal den dramaturgischen Bogen der Musik! Das ist ja auch durchkomponiert, glaube ich.

[Zustimmung Focks]

Es gibt eine Stelle, das Gespräch zwischen Richy Müller und Edgar Selge, wo es, keine Musik gibt.

Ja, ich habe mit einem Bordunton begonnen, der lange steht und von den Gamben gespielt wird. Über diese Zugfahrt bleibe ich auch lange in diesem puren Gambensound. Die Musik geht über in eine sogenannte ‚On-Musik‘. Wir sehen die Figur Milla, wie sie dieses Cello-Stück spielt. Das ist von Tobias Hume, ein ganz altes Stück, das natürlich von einer Cellistin, Anja Lechner, vor dem Dreh eingespielt worden ist. Und die Protagonistin hat das dann darauf eingespielt. Das ist nicht sie selbst, die klingt. Dann geht es über in die Soldaten, die kommen. Und man merkt, dass die Gambeninstrumentation in eine Orchesterorchestration übergeht. Genau da, wenn die Soldaten kommen, habe ich ein großes Streichorchester verwendet und auch atonal gearbeitet. Ich bin also von dieser archaischen Motivik weggegangen und habe Penderecki-Klänge benutzt, die dann in ihrer Atonalität auch das Haus zeigen. Das ist kein Schönklang. Man sieht einfach, dieses Haus birgt auch etwas Ungutes.

Im Hollywood-Kino nennt man das ja ‚Source-Musik‘, die Wissenschaftler nennen es diegetisch.

Genau, ‚Source’-Musik.

Das ist ja sehr häufig im Film, dass man das Musikspielen in der Szene sieht. Es wird sehr viel musiziert in diesem Haus.

Ja, genau.

VIER MINUTEN ist ja auch ein Beispiel für Musik als visuelles Motiv. Was bedeutet das für Sie, dass man die Musik auch auf der Leinwand sieht? Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Man darf nie vergessen, dass das auch Musik im Film ist. Es bedeutet, dass man zwischen Musik auch Luft lassen muss. Das ist ein wichtiger Moment. Die ‚Source-Musik‘oder auch ‚On-Musik‘, diese klassischen Stücke auch bei VIER MINUTEN, die hatte der Regisseur Chris Kraus vorher schon ausgesucht. Das Cello-Stück hatte er auf einem Konzert von mir gehört. Ich habe ein Cello-Konzert geschrieben für Anja Lechner und als Zugabe hat sie dieses Tobias-Hume-Stück gespielt. Und es hat ihm so gefallen, dass er es in den Film einbauen wollte. Ansonsten hat er auch eine Musikberaterin und schon im Vorfeld Ideen beim Drehbuchschreiben, welche Stücke er rein nehmen möchte.

Mich würde interessieren, welche Recherchen Sie angestellt haben für einen Film, der in dieser Zeit in Estland spielt.

Ich gehe eigentlich wie ein Dokumentarfilmer vor. Das ist bei diesem Film auch so gewesen. Von Estlanddeutschen ich habe eigentlich nicht so viel Ahnung. Also beschäftige ich mich mit der Zeit, mit der Kultur. Chris Kraus konnte mir natürlich auch viel erzählen, weil es ja seine Familiengeschichte ist. Es ist schon wichtig, dass man einfach das Drumherum kennt und irgendwie in die Tiefen geht. Wenn ich einen Film in Südafrika mache, fahre ich mitunter sogar nach Südafrika oder ich beschäftige mich nicht nur mit der Musik, sondern auch mit der Kultur. Je tiefer ich rein gehe in das Thema, umso freier bin ich dann bei der Musikfindung. Ich brauche immer so ein bisschen Boden. Ich würde das mit einem Dokumentarfilmer vergleichen. So gehe ich vor und es interessiert mich auch! Dann brauche ich noch nicht anfangen mit dem Komponieren, sondern kann alles erstmal sacken lassen. Irgendwann versuche ich, meine Musik aus diesem Hintergrundwissen zu kreieren.

Was ist bei POLL für die Klangfarben der Musik entscheidender gewesen – die Epoche oder der Ort?

Beides. Und auch die Geschichte. An erster Stelle steht das Drehbuch. Immer. Oder das Urbuch. Wenn es noch ein Originalbuch gibt, dann lese ich das auch, weil es für mich wichtig ist. Beim Lesen bekomme ich eine Ahnung von Musik. Es ist nicht so, dass ich jetzt schon die Themen im Kopf habe, aber ich habe eine Ahnung von der Instrumentierung. Ich spüre innerlich, ob ich etwas dazu komponieren kann, ob es mich anspricht. Das war hier auch so. Ich kann das gar nicht trennen – Epoche oder… Natürlich ist dieser Ort auch magisch. Als ich dann die ersten Bilder gesehen habe, habe ich natürlich auch diesen Wahnsinn gesehen, der gefilmt wurde. Und das beeinflusst einen! Es beeinflusst einen auch das Spiel der Schauspieler. Aber an erster Stelle steht bei mir immer das Drehbuch! Da gehe ich unbefleckt rein. Das sind meine Bilder, die ich mir dazu mache, meine Gedanken. Ich sage auch Filme ab, wenn ich merke, das spricht mich nicht an oder es löst in mir nichts aus. Ich kann nicht erklären was, aber irgendwie kommt beim Lesen in mir etwas zum Klingen – und das brauche ich!

Wie haben Sie gemeinsam mit Chris Kraus festgelegt oder erarbeitet, was für eine Art von Musik das wird? Was für ein Stil? Wie entsteht die Verabredung?

Ja, es war sehr schwierig. Es war anders. Ich kenne Chris Kraus von VIER MINUTEN. Und bei VIER MINUTEN war es so, dass ich das Vier-Minuten-Klavierkonzert geschrieben habe, als ich ihn noch gar nicht kannte. Ich hatte nur von der Geschichte gehört. Daraufhin habe ich zwei Tage Zeit gehabt und dieses Klavierkonzert geschrieben. Danach wurde damit gedreht und es waren zufällig ebenfalls vier Minuten und so wurde der Film benannt.

Es war unheimlich gut, dass ich Chris noch nicht kannte. Ich weiß nicht, ob ich so frei gewesen wäre, wenn ich ihn gekannt hätte. Weil ich da auch so unbedarft range-angen bin. Das ist manchmal ganz gut.

Jetzt kannte ich Chris und diesen ganzen Druck, der auf so einem Epos lastet. Den habe ich natürlich mitbekommen. Leider konnte ich nicht schon während der Schnittphase anfangen zu arbeiten, weil ich parallel einen Umzug nach Berlin und noch einen Film hatte, der im Schnitt länger brauchte. Also konnte ich erst anfangen, als der Schnitt fast fertig stand. Und das war sehr schwierig! Als Komponist kann man Musik natürlich im Vorfeld nur durch sogenannte Synthesizer deutlich machen. Das heißt, man hat Midi-Instrumente und versucht, ungefähr darzustellen, wie es später klingen wird. Und Chris mochte das – zu Recht – nicht und konnte sich das nie vorstellen. Er fand all‘ das schrecklich! Bis ich dann irgendwann so verzweifelt war und einfach die Sachen, die Themen, die ich komponiert hatte, aufgenommen habe – mit Gamben, komplett mit Gitarre, dieser Stimme und Percussion. Ich habe mir gesagt: Gut, wenn er das jetzt nicht nimmt oder wenn nichts dabei ist, dann muss ich aus diesem Projekt austreten. Und Gott sei Dank, waren die Themen, die er vorher nicht mochte, plötzlich die Themen, die er mochte. Es hat also immer auch unheimlich viel damit zu tun, wie etwas klingt. Deswegen bin ich ja auch so eine Verfechterin von live eingespielter Musik. Das ist einfach echter, es berührt unmittelbarer. Man spürt die Menschen dahinter, die ihr Leben lang geübt haben und ihr Herzblut da reinlegen. Es ist für mich immer die Krönung, wenn die Musiker dazu kommen. Aber das macht es natürlich wahnsinnig kompliziert. Und es ist natürlich auch gefährlich. Ich hätte dann zum Beispiel alles alleine zahlen müssen. [Lacht.]

Die Entscheidung zwischen intim oder episch – es gibt im Film ja beides so ein bisschen – wie ist die gefallen? Beim Drehbuchlesen oder beim Sehen des Films?

Also POLL war von Anfang an mit großem Orchester kalkuliert bzw. auf jeden Fall mit einem Streichorchester. Ich habe dann allerdings, als ich die Idee zu den Gamben hatte und ihm vorgespielt habe, versucht, ihn zu überreden, dass wir es klein halten. Dass wir diese Gamben lassen, diese Gitarre für Oda und für ihre Liebesgeschichte. Das haben wir auch lange so durchgezogen, eigentlich bis zum Schluss, und das wurde auch fertig produziert. Dann gab es eine Vorführung mit den Produzenten und allen ist deutlich geworden, dass dieser Film bei diesen Bildern doch die große Instrumentierung braucht. Film ist Teamwork und ganz zum Schluss entscheidet der Regisseur – zu Recht, weil es sein Film ist – und ich musste dann innerhalb von einer Woche alles fürs Orchester schreiben. Ich habe noch das Orchester aufgenommen und sogar Chor. Das war wie übergestülpt und teilweise auch sehr schwierig, weil ich die Gamben in einer bestimmten Stimmung aufgenommen hatte. Wenn ich gewusst hätte, dass später noch ein Orchester dazu kommt, hätte ich diese Stimmung nicht genommen. Aber Gamben klingen in dieser Stimmung am Besten, am Oberton-reichsten und am Weitesten und deswegen habe ich gedacht: Naja, wir nehmen Gamben als Hauptinstrument. Aber das wurde dann zum Schluss noch umgestülpt.

Im Vorfeld haben wir kurz über die Friedhofs-, Beerdigungsszene gesprochen. Da hatte ich das Gefühl, es weht so ein anderer Ton rein, so Sphärenklänge. Dann kommen auf einmal Percussions-Instrumente. Irgendwann kommt die Stimme hinzu. Wie entsteht so ein Bogen? Das ja auch so ein Paralleldrehbuch.

Man geht da gar nicht so analytisch ran. Ich auf jeden Fall nicht. Ich bin ein unheimlich intuitiver Komponist und sehr viel läuft über das Gefühl. Die Liebesgeschichte, die später eingeführt wird, hat natürlich ein anderes Klangspektrum als dieser Wahnsinnsort Poll. Das ist wie eine Klammer. Diese archaische Musik weht zum Schluss wieder – das ist der Rahmen. Das sind auch die Zeit und dieser Ort, die erzählt werden. Aber dazwischen entwickelt sich etwas ganz Feines, eben hervorgerufen durch Oda, die sich zum ersten Mal verliebt. Plötzlich wird es eine romantische Geschichte, neben dieser ganzen Zerstörung und Brutalität, die diesem Film ja inne ist. So ist, glaube ich, auch die Entwicklung. Dass ein anderes Instrument eingeführt wird, wenn das Leichte dieser Liebesgeschichte erzählt wird. Und dass jedes Mal ein Instrument dazu kommt, das kann wohl sein, ja. Es gibt eine Steigerung, auch zum Schluss. Diese Schlussszene ist wirklich riesig geworden – so viele Musiker sind auch nur an dieser Stelle am Spielen.

Es gibt ja szenisch auch so eine Klammer, als die spielende Milla gegen Ende nochmal auftaucht.

Genau, sie wird so zwischengeschnitten. Das Cello hört man ebenfalls. Als Schnaps rein läuft in die Flammen, um Oda raus zu ziehen, hört man dies Klänge von Milla, die sich mit meiner Filmmusik – die an der Stelle ja auch sphärisch ist und auch so Cello-Klänge beinhaltet – quasi verwebt.

Ich hatte eine paradoxe Wahrnehmung: Einerseits das Gefühl, der Film hat viel Musik – und dann habe ich gedacht, der Film hat wenig Musik.

Der Film hat gar nicht so viel Filmmusik, wie man denkt. Es ist aber immer auch wichtig, mitzuhören, dass es da ‚On-Musiken‘ gibt. Dadurch ist natürlich mehr Musik drin, als wenn man jetzt nur die Filmmusik hören würde. Die Musik ist etwas zu laut gemischt, finde ich. Dadurch ist sie ein bisschen vordergründig. Ich glaube, wenn man das noch ein bisschen subtiler gemischt hätte, hätte man stärker die Luft gehört, die eigentlich auch in der Musik ist.

Zu Beginn gibt es eine Komponente, die sehr wichtig ist, nämlich die Stimme aus dem Off. Das heißt, es gibt auch viele Ebenen des Wortes Viele Ebenen auch des Wortes. Wenigstens zwei immer. Was bedeutet das? Da können Sie vielleicht im Drehbuch erahnen, dass es diese Erzäh-lerstimme geben wird. Aber wie entsteht das im Detail?

Die Off-Stimme kam relativ spät dazu. Das Drehbuch war eigentlich ohne Off-Stimme angelegt. Dann hat man jedoch das Gefühl gehabt, wir brauchen noch eine Off-Stimme, um durch den Film zu führen. Die habe ich allerdings beim Komponieren auch gehört. Das ist sogar wichtig, weil man bestimmte Melodien nur zwischen den Pausen der Stimme setzen darf. Wenn überhaupt! Off-Stimmen werden oft mit der Musik begleitet. Aber man muss besonders aufpassen, dass man nicht in der gleichen Frequenz der Stimme ist und dass man in den Pausen vielleicht ein Motiv setzt, aber niemals mit der Stimme konkurriert. Deswegen ist es ganz wichtig als Komponist, wenn es eine Off-Stimme gibt, dass man die auch mithört. Aber die Entscheidung ist erst im Schnitt gefallen.

Eine Erzählstimme aus dem Off hilft immer. Sie gibt dem Zuschauer das Gefühl von etwas Rundem. Dazu eine klassische Filmmusik-Frage: Drückt Filmmusik etwas aus, was weder in den Bildern noch den Dialogen ist oder unterstreicht sie etwas? Wie ist das Verhältnis in POLL?

Filmmusik kann ja mehrere Komponenten bedienen. Sie arbeitet kontrapunktisch oder unterstreicht eben etwas oder sie verstärkt ein Gefühl, eine Liebesszene. An so einer Stelle wird man dann nicht, wenn in der Geschichte nicht etwas Dunkles vorgegeben ist, kontrapunktisch arbeiten. Das POLL-Thema unterstreicht auf jeden Fall die Stimmung des Films. Diese Düsterheit, diese Endzeitstimmung. Aber es gibt auch Momente in der Filmmusik, die kontrapunktisch arbeiten, man weiß nur noch nicht, warum. Also wenn die Soldaten kommen – warum arbeite ich so atonal? Mit atonalen Klängen habe ich auch das Verrückte von Ebbo unterstrichen, das ist wiederum verstärkend, wenn er durch die Scheune guckt. So sind eigentlich mehrere Facetten in dem Film, die Musik wird unterschiedlich behandelt. 

Noch so ein Klischee ist ja, Filmmusik müsse unsichtbar sein. Wenn man sie hört, ist es schon gleich schlecht. Das hat sich aber verändert, glaube ich. Sie muss heutzutage nicht mehr unterschwellig sein.

Jeder hat doch JENSEITS VON AFRIKA im Ohr. Dieser Film hat wirklich wenig Filmmusik. Ich glaube, nur 20 Minuten oder höchstens 30. Die ist aber so gut gesetzt, dass sie thematisch auch Aufblühen durfte. Und dieses Thema hat doch jeder im Ohr. Oder THE MISSION von Ennio Morricone. Da ist man ihm doch heute noch dankbar, dass er auch Melodien geschrieben hat. Insofern stimmt es schon, dass der Filmkomponist ein Teil des Teams ist und dass man die Musik dem Geschehen immer unterordnen sollte. Aber es muss auch Stellen geben, wo sie aufblühen kann. Mit Musik lassen sich eben Subtexte erzählen, die sonst einfach nicht erzählbar wären. Für mich ist Filmmusik immer auch Sprachrohr des Unaussprechlichen. Das ist ja das Tolle! Man kann Emotionen schaffen und Menschen so unmittelbar berühren, wie man es niemals nur mit dem Bild könnte. Man muss Filmmusik nur richtig dosieren! Das ist einfach das A und O. Beispielsweise auch Stille zwischen der Musik zulassen. Musik bedeutet immer auch Stille.

Jetzt haben Sie wunderbar übergeleitet zu einigen Standardfragen. Die eine ist: Was macht für Sie einen guten Filmkomponisten aus? Welche Gaben braucht er?

Er sollte sensibel sein, Geschichten intuitiv verstehen. Es ist schwierig. Ich sage immer, Filmkomposition ist ein eigener Beruf innerhalb der Komposition. Es ist einfach ein Unterschied, ob man ein 50-minütiges Orchesterwerk schreibt oder eben eine Filmmusik, wo man relativ schnell und in kurzer Zeit den Ton des Films auf den Punkt bringen muss. Es gibt immer eine Zelle von einem Film. Das ist sicherlich auch der Kern der Geschichte und es gibt diesen Kern auch auf der musikalischen Ebene. Das ist das Schwerste, diesen Kern zu finden! Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Ich glaube, ein Filmkomponist muss darum kämpfen. Es ist deshalb auch gut, wenn sich ein Filmkomponist in verschiedenen Genres auskennt, wenn er Lust hat, mit seiner Musik auf Reisen zu gehen. Aber das Wichtigste ist, auch wirklich Geschichten erzählen zu wollen.

Was ist Ihrer Ansicht nach ein empfehlenswerter oder der geeignetste Zugang, um in diesen Beruf zu kommen?

Die meisten Filmkomponisten sind Autodidakten. Es heißt überhaupt nicht, dass man, wenn man studiert hat, ein besserer Filmkomponist ist – im Gegenteil vielleicht sogar! Es gibt viele Autodidakten. Ich glaube aber, wenn man die Chance hat, Musik zu studieren, sollte man das mitnehmen. Man sollte Musik studieren, vielleicht Komposition und dann vielleicht auch noch Filmkomposition. Der Weg ist ein bisschen einfacher. Aber, wie gesagt, ich glaube, 99% der heutigen Filmkomponisten auf der Welt sind Komponisten – oder sagen wir mal 80% –, haben nicht studiert und schreiben wunderbare Musik. Letztendlich lerne ich das Meiste wirklich in der Zusammenarbeit mit den Regisseuren und den Cuttern. Die sind für mich sehr wichtig. Weil das überwiegend sehr musikalische Menschen sind.

Die Rhythmusgefühl haben?

Ja, sie haben Rhythmusgefühl und bestimmen natürlich auch meine Musik. Wie sie schneiden oder auch wenn ich parallel zum Schnitt arbeite – das macht man ja im Kinobereich meistens –, dann bestimmen wir uns gegenseitig. Dass ich Themen rein schicke und sie dann darauf schneiden oder umgekehrt, sie mir Themen schicken und sagen: Bitte, ich brauche jetzt ein bisschen was! Das ist eine ganz enge Zusammenarbeit. Im nächsten Schritt kommen dann der Tonmeister und der Sounddesigner dazu. Weil wir natürlich auch darauf achten müssen, dass wir uns nicht behindern, sondern ergänzen.

Wer ist für Sie – neben dem Regisseur – der wichtigste Ansprechpartner, Bündnispartner oder Komplize bei der Arbeit?

Ja, der wichtigste Komplize ist der Cutter oder die Cutterin. Das sind auch alles wunderbare Menschen. Die haben so viel Feingefühl. Ich bin immer wieder fassungslos, wenn ich die ersten Bilder und Muster sehe und wie daraus ein Film entsteht. Das ist natürlich nicht nur Regieleistung. Die Cutter bestimmen meine Musik umglaublich mit. Die Entscheidung, wie sie die Filmbilder setzen, welche Szenen sie zusammenlegen usw., das bestimmt auch den Rhythmus der Musik. Die Zusammenarbeit mit den Cuttern ist unglaublich wichtig für mich.

Haben Sie ein Vorbild, einen Leitstern? Gibt es einen Film, den Sie besonders aufgrund seiner Filmmusik bewundern?

Ach mehrere. Ich hatte es eben schon gesagt, JENSEITS VON AFRIKA habe ich gefühlte 100 Mal gesehen. [Lacht.] Ich liebe auch John Barry, der leider gestorben ist. Ich finde es großartig, was er geschaffen hat. Ich liebe Ennio Morricone, der, Gott sei Dank, noch lebt und der Themen geschrieben hat, die man einfach nie wieder vergisst. Das ist einfach Musikgeschichte. Das geht auch über Filmmusik hinaus. Ich brauche das nur hören, dann habe ich auch die Bilder vor Augen. Ich brauche den Film gar nicht mehr sehen. Es ist natürlich toll, wenn ein Filmkomponist so etwas schafft!

Das war in Zeiten, als Platten- und CD-Verkäufe noch wichtig waren.

Ja. Aber mir ist es auch immer sehr wichtig. Ich investiere meistens sogar selber noch ein bisschen Geld, damit ich einen Soundtrack mache. Es ist zum Beispiel wichtig als Dankeschön für meine Musiker, mit denen ich zusammen gearbeitet habe, dass ich ihnen noch einen Soundtrack in die Hand drücken kann. Es ist auch für mich wichtig, die Musik noch einmal so zu hören. Weil ich es entscheidend finde, dass die Musik auch alleine und nicht nur mit Bild klingt. Sie soll nicht nur Beiwerk sein, sondern auch musikimmanent funktionieren.

Was ist Kino?

Wenn ich sage, Musik ist mein Leben, dann ist Kino meine Leidenschaft. Und die Kombination von Kino und Musik ist für mich wirklich traumhaft. Es ist zwar nicht immer einfach, es hat auch mit Quälerei zu tun. Aber wenn dann Musik und Bild zusammenkommen und es funktioniert, dann ist das ein unglaublicher Augenblick! Und es ist auch interessant, dass es zwei Orte gibt, an denen ich wirklich mich fallenlassen kann – das sind der Kino- und der Konzertsaal!

Wenn Sie nicht diesen Filmberuf ausüben würden, welchen anderen könnten Sie sich vorstellen?

Keinen einzigen. Also Set geht gar nicht. [Lacht.] Und Schnitt – wie gesagt, ich bin immer fassungslos, wie die das schaffen. Regie ist überhaupt nicht meins. Wenn ich mit dem Orchester arbeite und dirigiere, ist das ja auch so ein bisschen Regie führen. Das ist mein Bereich. Aber einen anderen Bereich kann ich mir überhaupt nicht vorstellen! Also für mich ist die Musik der einzige Bereich, in dem ich beim Film arbeiten möchte.

Frau Focks, vielen Dank für dieses Gespräch. 

Das Gespräch führte Gerhard Midding. 

Annette Focks, geboren 1964 im niedersächsischen Lingen, legt 1982 eine Prüfung zur Organistin ab. Im Anschluss spielt sie (bis heute) in verschiedenen Bands und klassischen Musikformationen. 1985 nimmt Focks ein Studium an der Kölner Musikhochschule auf, das sie 1993 abschließt. Nachdem sie für ihre Freundin Mathilde Kohl den Studentenfilm "Das Blau des Himmels" vertont hat, beschließt Focks, Filmkomponistin zu werden: Sie geht nach München, wo sie von 1996 bis 1998 an der Musikhochschule ein Diplom-Studium im Fachbereich "Komposition für Film und Fernsehen" absolviert. Weitere Ausbildungsstationen folgen, als sie 1998 im Rahmen der European Biennal for Music diverse Kurse besucht und 2002 in Los Angeles einen Workshop bei dem renommierten Hollywood-Orchestrator Steven Scott Smalley besucht. 

Nach Kompositionen für mehrere Kurzfilmprojekte verfasst Focks im Jahr 2000 für das Fernsehspiel "Schwiegermutter" von Dagmar Hirtz ihre erste Musik für einen abendfüllenden Spielfilm. In den kommenden Jahren arbeitet sie an zahlreichen Kino-und TV-Produktionen, darunter hoch gelobte Filme wie ALS GROSSVATER RITA HAYWORTH LIEBTE (2001), INS LEBEN ZURÜCK (2003) und DIE WILDEN HÜHNER (2006). Ihre eindringliche Komposition zu dem hoch gelobten Drama VIER MINUTEN (2006) bringt ihr eine Nominierung zum Europäischen Filmpreis ein, die Musik für Rainer Kaufmanns  EIN FLIEHENDES PFERD (2007) eine Nominierung für den Deutschen Filmpreis 2008. Ein Jahr darauf wird sie für Marco Kreuzpaintners Ottfried-Preußler-Verfilmung KRABAT erneut nominiert.

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Annette Focks

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