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Kostümbild – Der Stoff, aus dem die Kinoträume sind

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Visual & Special Effects – Der Griff in die Trickkiste

Die Absurdität des Lebens

Wie der Regisseur Wolfgang Becker für die perfekte Szene kämpft, in der alles stimmt

„Wenn man eine gewisse Vertrautheit mit den Menschen einer Geschichte hat, kann man einfach besser von ihnen erzählen."

Interview mit Wolfgang Becker

Der Regisseur Wolfgang Becker ist als Perfektionist bekannt, der in seinen Filmen nichts dem Zufall überlässt. Kleine Requisiten, die sonst kaum jemand beachten würde, können für ihn eine ganze Welt und eine exakte Stimmung beschreiben – und der Erfolg beim Zuschauer gibt ihm recht. Kein Wunder also, dass er mit seiner Crew so lange unerbittlich an der Besetzung, an den Akzenten, am Spiel der Schauspieler, an den Sets und Kostümen feilt, bis eine Szene für ihn 'zu leben' beginnt.

Die Szene
Ostberlin, 1990. Alex (Daniel Brühl) pflegt seine Mutter (Katrin Saß), die nach acht Monaten aus dem Koma erwacht ist. Wegen ihres kritischen Zustands darf sie nicht erfahren, dass es ihre Heimat, die DDR, nicht mehr gibt. So organisiert Alex eine kleine Geburtstagsfeier mit Pionierliedern, einem ehemaligen Arbeitskollegen der Mutter (Michael Gwisdek) und vielen weiteren Helfern. Alles läuft gut, bis vor dem Fenster ein verräterisches Plakat ausgerollt wird ...

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Wer einen Film dreht, muss irgendwann wissen: Was interessiert mich daran? Was war im Fall von GOOD BYE, LENIN! dein Hauptinteresse?

Bei GOOD BYE, LENIN! war das eigentlich ähnlich wie bei allen anderen Filmen, die ich davor gemacht habe. Es ging auch darum, dass man die Grundidee nicht auf der Strecke verliert. Das ist eigentlich das größte Problem. Man fängt mit etwas an, das nur auf zwei Seiten beschrieben ist, und nach Monaten und Jahren endet man an einem ganz anderen Punkt und fragt sich dann: Ist das, was man am Anfang eigentlich erzählen wollte, noch da? Oder ist es einem auf dem Prozess, auf dem ganzen Weg, wie Sand zwischen den Fingern zerronnen? Was passieren kann. Und ich finde es immer sehr spannend, wenn man am Ende des Prozesses sich die ersten zwei Seiten wieder raussucht und guckt: Was stand da eigentlich drauf? Bei LENIN war das gar kein Treatment, sondern nur ein Brief von dem Drehbuchautor Bernd Lichtenberg, den ich kannte. Ein Brief, der auch noch auf ominöse Art und Weise für Wochen verschwunden war in unserer Produktionsfirma – dann aber Gott sei Dank wieder auftauchte. In dem Brief hat Lichtenberg das Projekt nur kurz, auf drei Seiten vorgestellt. Es ging eigentlich darum: Eine Frau fällt noch zur Zeit der DDR, mitten in einer Demonstration zum vierzigsten Jahrestag der DDR, ins Koma, weil sie ihren Sohn sieht, der mitdemonstriert, und wacht erstaunlicherweise acht Monate später – keiner hat mehr damit gerechnet – aus diesem Koma auf. Sie darf aber nicht von den politischen Neuigkeiten erfahren, denn das könnte sie ihr Leben kosten. Insofern beschließt der Sohn, einfach eine Welt zu kreieren, die es nicht mehr gibt, und zwar eine DDR wiederauferstehen zu lassen, aber eine andere DDR, als vorher da war. Und während dieses ganzen Prozesses verstrickt er sich so sehr in Lügen und spannt auch so viele Leute ein, dass das ganze Unterfangen, was am Anfang ein sehr gutes war, mehr und mehr fragwürdig wird. Und ich finde diese Grundidee hat der Film ohne Weiteres sehr prägnant gezeigt. Insofern war ich am Ende, als ich mir diesen Brief noch mal durchgelesen habe, sehr froh, dass das nicht irgendwie auf der ganzen Strecke verschwunden ist.

Gibt es den Moment, wenn man so eine Idee liest, in der man sagt: Ja, das möchte ich sehen! Und nicht nur das – ich möchte es sogar selber inszenieren!

Ja, das gibt es manchmal: dass man etwas sehen will und es nicht selbst inszenieren will. Und manchmal gibt es eben genau das, was man sehen will und auch selbst inszenieren will, weil es die eigene Kragenweite ist. Mir geht es eigentlich so: Vier von den fünf Sachen, die ich gerne sehen will, will ich gar nicht selbst machen, weil ich glaube, dass ich nicht der richtige Regisseur dafür bin. Aber eine will ich dann machen, aber die sucht man ja immer. Es geht einfach darum, dass man aus einer Welt von Menschen erzählt, die einem auch vertraut ist. Ich glaube, je vertrauter man mit der Geschichte ist – ohne zu sehr da drin gefangen zu sein, eine gewisse Distanz gehört natürlich auch dazu – desto besser kann man von ihr erzählen. Und hier kamen viele Sachen zusammen. Also es ging a) um Menschen, die mir von ihrer Herkunft her, von ihrer Art zu denken, von ihrer gefühlsmäßigen Disposition her, sehr nahe waren. Und trotzdem: Dadurch, dass sie halt eben Menschen der DDR waren – ich bin ja nun jemand, der die DDR nicht durchlebt hat mit meiner Biografie –, war diese nötige Distanz da, um das zu erzählen.

Was muss ein Stoff haben, um dich in dieser Weise zu faszinieren, wie es GOOD BYE, LENIN! geschafft hat?

Man liest etwas und ist fasziniert davon. Ich glaube, wenn du ein Buch liest, dann wirst du nicht – wenn du das Buch am Ende zusammenklappst und sagst: Das war jetzt ein toller Roman, den ich da gelesen habe –, dann wird nicht die erste Frage sein: Warum hat mir ausgerechnet dieser Roman so gut gefallen? Und welche Rückschlüsse ziehe ich daraus auf meinen Gesamtgeschmack, was Romane anbetrifft? So selbstanalytisch gehen die meisten Menschen nicht durchs Leben. Es ist etwas, das in einem selbst etwas ankratzt, zum Klingen bringt, wiedererkennen lässt, einen auf eine spezifische Art und Weise zum Lachen bringt. Und es ist der Moment, in dem man sagt: Da fühle ich mich zu Hause, da weiß ich sofort, was das für Menschen sind, ich verstehe sie, ich kann sie emotional nachvollziehen. Wenn das alles zusammenkommt, dann ist es eben der richtige Stoff. Und das kommt leider nicht so häufig vor. Es gibt Regisseure, die ein sehr klares Handwerk haben und mit diesem Handwerk, glaube ich, mehr wie so ein Breitband-Antibiotikum wirken. Die können sehr viele verschiedene Stoffe aus verschiedenen Genres machen, weil die eigene Person, die Biografie, die Lebenserfahrung gar nicht so eine große Rolle spielt. Es ist die Story, die im Vordergrund steht. Ich dagegen brauche schon eine sehr intime Kenntnis der Personen.

Wenn diese Figuren aber jemand anderes erfunden hat: Woher kommt das Gefühl, dass sie dir vertraut sind? Erinnerst du dich an Begegnungen aus deinem Leben?

Wenn man zum Beispiel auf die Figur Alex aus GOOD BYE, LENIN! guckt, die ist ja in einem Exposé oder Treatment, erst eine Skizze. Der ist wie eine Kohlezeichnung, bei der man aber schon relativ gut einen Gestus erkennen kann, eine Pose und eine Haltung erkennen kann, aber das ist alles überhaupt noch nicht in die Feinheit gebracht. Ich würde mal sagen: Ein Exposé ist zu dem Drehbuch ähnlich wie eine Skizze, so ein Skizzenbuch, was ein Maler macht, um damit ein Bild zu malen. Wenn man frühzeitig in das Drehbuch miteinbezogen ist – und bei LENIN war das bei mir der Fall –, ist die Möglichkeit natürlich auch für den Regisseur gegeben, das, was ihm an einer Person wichtig ist, schon in das Drehbuch mit einfließen zu lassen, um dann nicht am Ende beim fertigen Drehbuch die Figur erst mal wieder für sich umzudeuten und umzuändern, sondern das war einfach in dem Buch schon drin. Ich musste mir das Drehbuch also nicht erst passend machen, weil ich in den ganzen Prozess der Drehbuchentwicklung miteinbezogen war. Und insofern war das Maß der Vertrautheit zu den Figuren sehr groß.

Kann man sagen, dass die Stoffe, die dich interessieren, eine ganz bestimmte Lebensphilosophie enthalten?

Ja, es geht um die Absurdität des Lebens. Menschlich und verständlich sind dabei zwei ganz wichtige Worte. Das heißt, wenn man Situationen erwischt und die noch ein bisschen extremer weiterdenkt, die zum Beispiel etwas mit lügenhafter Verstrickung zu tun haben, dann wird man jeden Menschen damit erreichen. Denn alle haben schon mal gelogen in ihrem Leben. Alle haben sich schon mal verstrickt damit, und alle wissen, was passieren kann, wenn eine Lüge durch einen dummen Zufall seinen Lauf nimmt. Man muss diese Lüge weitertreiben und kommt in immer größere Schwierigkeiten. Und etwas, das eigentlich nur eine Notlüge oder eine gut gemeinte Lüge war, kann sich plötzlich zu einem Problem entwickeln. Das ist etwas, was jeder Mensch nachvollziehen kann – was übrigens weder sprachabhängig, noch schichtenabhängig, noch mentalitätsabhängig ist. Das hat wirklich was Universelles. Ich will meinen Film nicht mit Charlie Chaplin vergleichen. Aber Charlie Chaplin baut seinen Humor genau darauf auf, dass er wirklich sehr gut Menschen beobachtet und sehr simple, einfache, menschliche, nachvollziehbare Dinge zum Zentrum macht. Er schaut genau hin und schafft Situationen, die er dann noch abstruser und absurder steigert. Und wir lachen da drüber und möchten aber mit den Figuren, die wir auch sein könnten, auf gar keinen Fall tauschen: weil wir einfach uns in diesen Leuten wiedererkennen.

Und diese Absurdität oder diese absurde Komik findet man jeden Tag. Also ich meine, man schlägt die Zeitung auf, man sitzt in der U-Bahn, man ist am Flughafen oder irgendwo oder man läuft durch die Straßen – überall begegnet es einem. Man muss nur halt eben die Ohren aufmachen oder muss ein gewisses Faible dafür haben, so Sachen zu entdecken. Und manches bleibt halt eben hängen. Also da läuft am Flughafen jemand rum, der pausenlos ins Telefon sagt: Ich kann mich nicht wiederholen, ich kann mich nicht wiederholen. Das ist irgendwie einfach ... Das ist eine komische Situation. Und man hört nichts anderes von dem als diesen Satz. Oder was habe ich jetzt gerade in der Zeitung gelesen? Ein Hartz-IV-Empfänger bekommt kein Geld mehr, weil er einen Test verweigert. Und in dem Test stand – übrigens ist das Ganze passierte in Berlin-Neukölln, das muss man dazusagen –, in dem Test war eine Aufgabe. Er sollte den Satz 'Ich ficke deine Mutter' konjugieren, durch alle Personen durch. Da hat er sich geweigert, das zu tun. Und darauf angesprochen, warum man so einen komischen Test macht, war die Antwort von der... nicht mehr vom Arbeitsamt, sondern das heißt jetzt Sowieso-Agentur … man wollte das Ganze schichtenspezifisch gestalten. (Lacht) Das find ich einfach so absurd, so was. Da muss man gleich wieder einen Film draus machen.

Hast du ein Archiv, wo du solche Sachen sammelst?

Ja, ich habe zu Hause, leider ein bisschen unkoordiniert, Zettelkästen und, so grob nach Themen geordnet, Zeitungsausschnitte, kleine Kommentare, die ich mir irgendwo aufschreibe, Dinge, die dann ab und zu mal auch in etwas einfließen. Aber das Problem besteht halt eben darin, dass man aus Zetteln allein heraus keine Geschichte kondensieren kann. Also eine Geschichte muss schon da sein, und das ist halt eben das Fleisch, was dann dazukommt. Das ist dann das, was der Skizze fehlt, aber was die Feinheit einer Person ausmacht.

Und wie groß ist dieses Archiv mittlerweile?

Ich bin gerade dabei, es zu sichten. (Lacht) Das ist kein Quatsch. Ich bin wirklich gerade dabei. Die Amerikaner sagen, es gibt 'story driven' and 'character driven', also die storygetriebene und die charaktergetriebene Geschichte. Und GOOD BYE, LENIN! ist ganz klar von einer Geschichte getrieben, die sehr stark ist, aber auch mit starken Figuren. Die Filme, die ich davor gemacht habe, sind eigentlich entstanden durch die genauen Kenntnis von Figuren entstanden, die ich einmal zusammengeschmissen habe, quasi wie in so einer Art Experiment, um zu gucken was beim Schreiben mit diesen Figuren passiert. Da war keine klare Geschichte vorgegeben.

Bei GOOD BYE, LENIN! wurde die Ausgestaltung der Figur Alex extrem wichtig. Hast Du ihn gleich vor dir gesehen?

Auf der Drehbuchebene kann das Fleisch einer Figur eigentlich nur bestehen aus: Wie reagiert der in einer bestimmten Situation? Wie kann man kleine gestische Momente, kleine Reaktionen beschreiben? Wie reagiert er vor allen Dingen durch seine Sprache? Das ist ganz wichtig. Aber die genaue Physiognomie kann man natürlich noch nicht haben, es sei denn, man schreibt ein Buch für einen bestimmten Schauspieler. Das war bei GOOD BYE LENIN! aber nicht der Fall. Insofern ist ist das dann noch eine Schreibtischfigur, die ein sehr starkes Potenzial hat, aber noch kein konkretes Gesicht und noch keine konkrete Bewegung. Dann sucht man beim Besetzen: Wo ist die größte Kongruenz zwischen dem, was ich mir vorgestellt habe an Charakter, und einer, sagen wir mal, ganz unwillkürlichen Entsprechung eines Schauspielers? Das muss er gar nicht spielen, das hat etwas mit seinem gestischen Fundus zu tun. Ich bin auf Daniel Brühl eigentlich erst sehr spät gekommen, weil der eine Bedingung nicht erfüllt hat, nämlich die Bedingung, dass er Ostberliner ist. Mit der Maskenbildnerin sprach ich gerade über den typischen Tonfall, die kommt nämlich aus Ostberlin, und das hört man auch. Maria Simon kommt auch da her und auch Katrin Saß ist das sehr vertraut. Die kommt zwar nicht aus Ostberlin, aber die hat genau diesen Ton. Daniel Brühl, der aus dem Rheinland kommt und eigentlich ein Kölsche Junge ist, der spricht nicht so. Und so ein normales Icke-meene-Sprachtraining auf Berlinisch bringt auch nix. Also habe ich erst einmal einen Bogen um ihn gemacht und habe wirklich in Ostberlin geguckt, aber niemanden gefunden. Irgendwann kam Daniel, und er war super. Er musste dann drei Monate lang einen ostberlinischen Akzent lernen, der dann aber wieder zurückgenommen wurde.

Welche Qualitäten hatte er für diese Rolle?

Er hat in jeder Beziehung überzeugt. Das ist ja eine gewagte Konstruktion: eine so große Mutterliebe, dass ein Sohn für seine Mutter eine ganze Welt neu aufbaut. Dabei gefährdet er das Verhältnis zu seiner Schwester, er gefährdet das neue Verhältnis zu seiner Freundin, er spannt alle Leute ein, das Ganze ist nicht unbedingt billig, und er hat rund um die Uhr zu tun. Er wird wie so ein Zauberlehrling, der das nicht mehr in den Griff bekommt. Das ist eine so gewagte Konstruktion, dass man das nicht über das Drehbuch, oder über eine Geschichte, oder einen Dialog erklären kann – das muss eine Figur in sich tragen. Und Daniel Brühl trägt das in sich. Die Frage entsteht bei ihm nie: Warum macht er das für seine Mutter? Ein anderer Schauspieler, der das vielleicht gut spielen könnte, hätte aber diese Frage mit sich gebracht: Warum macht er das überhaupt für seine Mutter? Das sind diese Feinheiten, die man beobachten kann beim Casting. Dafür macht man auch ein Casting und Probeaufnahmen. Nicht um rauszufinden: Ist jemand grundsätzlich ein guter Schauspieler? Sondern: Ist jemand eigentlich genau der Richtige für diese Rolle? Wir sehen so viele Liebespaare, gerade im amerikanischen Film, wo man Stars zusammenbringt, aber genau weiß: Wenn der Regisseur 'cut' sagt, dann gehen die ab in ihre Wohnwagen und haben nichts miteinander zu tun. Man spürt, dass da nichts ist. Um das herauszufinden, lasse ich mir immer sehr viel Zeit. Das ist ein ganz interessanter Prozess. Es gibt Filme, da sind diese Feinheiten nicht von zentraler Bedeutung. Weil die Charaktere viel mehr stilisiert sind. Da stehen andere Momente im Vordergrund. Aber wenn man sich schon mit der realistischen Form beschäftigt, dann muss man auf solche Dinge achten, weil die Zuschauer ein unglaublich feines Sensorium dafür haben.

Was spürt man bei Daniel Brühl, dass ihn in dieser Rolle überzeugend macht?

Das ist einfach das große Herz, das Daniel Brühl hat. Ein großes Herz, das man nicht spielen kann.

Die These, dass eigentlich jeder Schauspieler alles spielen kann, würdest du eher ablehnen?

Die These, dass jeder Schauspieler alles spielen kann, ist völliger Blödsinn.

Es geht auch um ein bestimmtes Milieu in einer bestimmten Zeit. Ist es dir wichtig, das die, die es erlebt haben, das wiedererkennen?

Das ist enorm wichtig. Es geht um das, was man selbst erlebt hat, was man mit einer bestimmten Lebenszeit verbindet. Nehmen wir nur den Bereich Requisiten – ein ewiges Ärgernis.

Es gibt ja erzählerische Requisiten, von denen unglaublich viel abhängt. Die haben nicht nur die Aufgabe, dieses Requisit in einer Funktionalität zu sein, sondern sie müssen eben auch für eine ganze Generation das stellvertretende Requisit sein. Und bei jedem ist es ein bisschen anders. Und dann sozusagen das 'apotheotische' Requisit zu finden, das für alle spricht und wo jeder sich drauf einigen kann, das ist manchmal sehr schwierig. Es geht dabei längst nicht um alle Requisiten – Gott sei Dank –, es geht immer nur um ein paar wichtige Requisiten, aber die müssen genau stimmen.

Kannst du Beispiele für Requisiten nennen, von denen Du gesagt: Ja, da habe ich genau das richtige gefunden?

Bei KINDERSPIELE ging es zum Beispiel um das Abendbrot. Welche Trinkgläser stehen auf dem Tisch, wie hat die Milchflasche ausgesehen, wie hat man da eigentlich genau gegessen? Diese ganzen merkwürdigen Dinge, diese Schnittchen, die gemacht wurden, die auf eine bestimmte Art und Weise aussahen. Eine Situation zu schaffen, in der ein Blick auf so einen Tisch für ganz viele Leute sofort das Gefühl auslöst: Um Gottes willen, diese Welt! Ich bin froh, dass ich ihr entflohen bin, aber es kommen sofort die beklemmenden Gefühle in mir hoch, weil ich diese Welt genau kenne. Um dieses Gefühl zu erzeugen muss eigentlich ein Blick genügen. Eine Totale, man sieht diesen Tisch und hat das Gefühl man sitzt dort als kleiner Junge wie damals. Das ist das Wichtige, und das erzählen eben Requisiten. Wir hatten zu Beginn der Dreharbeiten am Set eine Küche, die war ausgestattet, als ob sie frisch aus einem Katalog käme von 1960 oder 1965. Da gab es schon das Resopalmäßige, das war gerade ganz neu. Das war ein Problem für den Film, denn die Küchen damals waren eher zusammengewürfelt: neben neuen Sachen war da Omas Anrichte aus den Zwanzigern und Sachen aus dem Krieg. So habe ich all diese Küchen erlebt, ob das in Bayern oder in Norddeutschland war. Wir hatten so viele Verwandte, dass ich auch viele Küchen gesehen habe. Nur die Leute, die Kohle hatten – die hatten schon gleich die komisch schrägen Hängeschränke in Hellgelb, Rosa und Hellblau. Aber die einfachen Leute, die konnten sich keine ganze neue Küche leisten, also war es für den Kontext des Filmes wichtig diesen Mix darzustellen. Dann haben wir die neue Küche erst einmal abgerissen und dann neu gemacht mit vermischten Küchenmöbeln. Anschließend musste man überlegen: Wo sind die Laufwege, wie rennt die Hausfrau, wo ist die Spüle, wo ist der Herd, wie ist die normale Bewegung? Daraus ergibt sich die Sitzordnung am Tisch. Wo sitzt Papa, Wo sitzt Mama? Wo sitzen die Kinder? Das merkt man aber nur in einem konkreten Raum. Ich schlafe dann immer am Drehort, um das Gefühl für die Abläufe zu bekommen.

Du hast den Ruf, in bestimmten Dingen Perfektionist zu sein. Muss da so lange getüftelt und drin geschlafen werden, bis es stimmt?

Dass ich den Ruf des Perfektionisten habe, liegt vielleicht daran, dass ich dann, wenn beim dritten Mal etwas nicht stimmt, vielleicht ein bisschen deutlicher sage: Jetzt muss aber das richtige Requisit ran. Es hat auch immer etwas damit zu tun, was für Mittel die Leute, mit denen man da arbeitet, zur Verfügung haben. Die Etats sind bei uns sehr begrenzt, und dann kommt ein Regisseur, der möchte in einem Abendbrotessen – nehmen wir mal einfach nur Ausstattung – was ganz Besonderes haben. Dann sagt sich der Ausstatter 'Das habe ich jetzt schon so oft gemacht, warum will der jetzt was Besonderes haben? Warum wird das jetzt so ins Zentrum gerückt? Das kostet doch nur alles extra!' Es natürlich auch etwas mit dem Budget zu tun, was man für die Produktion zur Verfügung hat. Wenn man viel Geld hat, dann kann man auch dem Schauspieler sagen: Ach, geh doch mal zum Schrank und mach den auf! Denn normalerweise macht er den Schrank auf, und dann ist dahinter nichts, weil dafür kein Geld da ist. Also darf man die Idee gar nicht haben: Man darf keine Schubladen oder Türen aufmachen, weil dahinter immer nichts ist. Wenn man Geld hat, dann sagt man einfach: Wir statten das aus. Dann kann der Regisseur auch die Idee haben und sagen: Mach mal die Schranktür auf! Da sist oft eine schwierige Angelegenheit, weil da oft die Bedürfnisse des Regisseurs mit den Möglichkeiten des Budgets nicht ganz überein gehen. Aber ich finde schon, dass man in einigen Sachen sehr genau sein sollte. Das gehört auch dazu, genau zu sein. Ich finde manche Regisseure – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart – in diesem Punkt auch sehr schlampig.

Nun zur Szene, die wir zeigen. Diese Ideen, die Pioniere singen zu lassen, den alten Direktor zu aktivieren, den passenden Korb herzurichten – und dann diese Coca-Cola-Fahne. Kannst du dich erinnern, wie es zu diesen Details gekommen ist?

Ich weiß noch, dass im Drehbuch die Mutter nicht einfach nur Grundschullehrerin war, sondern Lehrerin an einer Schule für Gebärdensprache. Und diese Geburtstagsszene war eigentlich so, dass sie einigen Kindern aus ihrer Schule das in Gebärdensprache vorgesungen hat, also ein Pionierlied, und sehr glücklich da drüber war, dass sie das verstanden haben.

Die Sache mit der Cola-Fahne, die stand noch gar nicht im Drehbuch, die kam erst in einer späteren Szene. Da ging es darum, dass die Deutschen ins Endspiel kommen und alle von dem Geburtstag schnell weg wollten, und die Mutter merkt das, und irgendeiner verplappert sich und sagt: Ja, wir sind im Endspiel. Die Mutter ist ganz überrascht, dass die DDR im Endspiel ist. Und so kommt es, dass Alex das Problem hat: Sie will dieses Fußballspiel unbedingt sehen, und er muss ihr dieses Fußballspiel zeigen. Und wir haben dann alles Mögliche probiert, um einen Fernsehsender so zu stören, dass man nur so ein paar Figuren da rumlaufen sieht, aber nicht die Trikots erkennen kann. Das war einfach kaum möglich.

Insofern sind hier eigentlich drei verschiedenen Ideen, die sich in drei verschiedenen Szenen entwickelt haben, in dieser Szene verschmolzen. Was wieder einmal ein wunderbares Beispiel dafür ist, dass Drehbuch-Schreiben in erster Linie Überarbeiten ist. Erst schreibt man, und dann merkt man: Aha, das ist jetzt ein bisschen additiv erzählt. Und diese Szene hat auch nur diese eine Dimension. Wie könnte man ihr eine andere Dimension geben oder vielleicht sogar noch eine dritte, und die Sachen überlagern? Kann man vielleicht ökonomischer sein und eine Szene durch Streichen von Passagen verdichten?

Manche Details bleiben besonders in Erinnerung. Zum Beispiel die Sprache des Lehrers, dessen Sätze sich immer so im Nichts verlieren.

Im Drehbuch sind diese Sätze des Lehrers sogar ausformuliert, also wo er abbricht, wo er die Pause macht, wo er sich verstottert. Und dann sucht man sich einen Schauspieler, der einfach auf eine wunderbare Art und Weise Sätze ins Nirgendwo führen kann. Und Michael Gwisdek ist ja jemand, der das kann, er versucht immer erst mal, eine komische Wendung reinzubringen. Und wenn man das weiß, kann man mit ihm wunderbar arbeiten. Das würde ein anderer Schauspieler, der dieses spezielle Talent nicht hat, dann auch nicht hinbekommen.

Eine andere Situation ist diese Geste der Mutter, als die Pioniere singen und sie dann das Zeichen zum Beenden macht. Also auch auf dem Krankenbett, wo sie einfach nur genießen soll, muss sie gleich die Situation als Lehrerin an sich reißen.

(lacht) Ja, wir sind doch alle das, was wir sind. Wir reißen doch ganz häufig Dinge an uns, die auch unser Leben ausmachen. Man kann das in den einfachsten Momenten beobachten, im alltäglichen Leben. Ich bin viele Jahre in Berlin Taxi gefahren, und Taxifahrer haben es mit mir sehr schwer, a) wenn sie falsch fahren, b) wenn sie keine Ahnung haben. Das hat was damit zu tun, dass ich weiß, wie man es besser machen kann. Das sie hat den Reflex, den man gemacht hat, wenn man mit Kindern zusammen singt. Das macht sie einfach, und das gehört zu so einer Figur dazu. Das muss man eine Schauspielerin dann ein bisschen lernen. Man sieht das ja häufig in Filme: Die Komparsen links und rechts können ihr Handwerk sehr genau, nur der Schauspieler, der in der Mitte steht, der weiß nicht mal, wie rum er das Messer halten muss. Bei mir müssen dann die Schauspieler einen Tag oder zwei Tage in den Betrieb gehen und so Dinge auch lernen, damit das nicht ganz so blöd aussieht.

Besonders beeindruckt hat mich der Unglaube in Brühls Gesicht, als die Mutter sagt: Hinter dir ist was! Und er dann fragt, genervt: Was denn? Das ist sicher ganz schwer herzustellen, wenn man schon weiß, was da hinten passieren wird.

Es ist hier sogar noch so gewesen, dass Daniel diese Szene ganz alleine gespielt hat. Da waren die anderen nicht im Raum. Diese Szene ist für mich als Regisseur sehr schwer gewesen, weil wir eine Schussrichtung gehabt haben, das war die Schussrichtung auf Katrin Saß alleine im Bett, und dann die andere Richtung, wo zehn oder zwölf Leute standen, die auch mal als Totale gezeigt wurden, und wo dann die einzelnen Leute rausgepickt wurden. Der Idealzustand wäre gewesen, dass alle an diesem Drehtag von morgens bis abends da sind. Das war aber nicht der Fall. Der eine musste schon nach zwei Stunden weg, der andere kam erst drei Stunden später, der Nächste konnte gar nicht. Für den Gegenschuss zum Beispiel konnte Daniel Brühl nicht, da hatte er eine Preisverleihung. Wir mussten einen Fahrer mit seinen Klamotten in den Anschnitt stellen, dem Fahrer musste ich auch noch beibringen, wie sich Daniel bewegt, was alles ganz fürchterlich ist. Und für die Schüsse auf die Mutter war ich derjenige, der wie so ein Zampano hinter der Kamera rumgesprungen ist und jeden Satz gesagt hat – eigentlich so, dass Katrin Saß immer nur Lachanfälle bekommen hat, weil ich auch versucht habe, das zu spielen.

Und das ist natürlich für einen Schauspieler eine schwierige Angelegenheit, wenn die Situation nicht so authentisch und so wirklich wie möglich ist. Schauspieler sind nicht dazu da, aus einer völlig unnatürlichen Situation etwas ganz Natürliches zu machen. Man sollte ihnen möglichst eine Situation anbieten, die so natürlich wie möglich ist. Dass Daniel es dann trotzdem hinbekommen hat, das liegt daran, dass er gut ist.

Du hast kein Hilfsmittel gewählt, mit dem Du ihn überrascht hast? Manchmal lässt man ja die Schauspieler so ein bisschen im Dunklen, um authentische Reaktionen zu provozieren.

Das kann man ab und zu spontan machen, wenn eine Situation nicht funktioniert und man nicht weiterkommt, dass man ein Agreement mit einem Schauspieler macht und sagt: Jetzt mach mal was ganz Überraschendes! Bring mal deinen Partner aus der Fassung oder verunsichere ihn! Die Verunsicherung funktioniert aber natürlich nur einmal. Wenn sich der Kameramann an der Stelle gerade dummerweise verschwenkt oder das Material ausgeht, dann kann man es nicht wiederholen. Insofern ist das kein Mittel, das permanent taugt. Deshalb halte ich gar nicht so viel davon, dass man mit so überraschenden Momenten arbeitet. Man kann ab und zu mal, wenn man mit Komparsen arbeitet, die einfach nicht reagieren, plötzlich irgendwas herunterschmeißen und alle gucken sofort, das ist dann ein rein intuitiver Reflex, den man ausnutzen kann. Aber das kann man mit Schauspielern nicht pausenlos machen, die reagieren auch mal genervt auf sowas.

Gibt es Momente in dem Film, die wie unerwartete schöne Geschenke kamen?

Das sind mehrere Sachen. Wie Michael Gwisdek, wie du schon richtig sagtest, so leicht angetüdelt, weil er so aufgeregt ist, seine Sätze nicht zu Ende kriegt – obwohl er das ja eigentlich als Schuldirektor gelernt haben müsste, eine kleine offizielle Ansprache zu halten. Ich finde auch, dass die Art und Weise, wie Alexander Beyer und die Maria Simon, also wie er sich die ganze Zeit verhaspelt und wie sie ihn ständig korrigiert. Man spürt wirklich seine Verunsicherung. Die drei DDR-Prototypen, also der Hausmeister, die Nachbarin, noch ein Arbeitskollege aus der Hausgemeinschaft, die sind einfach vom Gesicht her sehr gut gecastet und haben mit einer großen Freude diese Rolle gespielt und die natürlich ein Stück weit auch stilisiert. Dass die nicht einfach eins zu eins real gespielt haben, wie die halt dann diesen kleinen Moment, den sie hatten, auch mit einem richtigen Blick auf den Punkt gekriegt haben, das war eine große Freude, das zu drehen.

Was zeichnet einen guten Regisseur aus?

Ein guter Regisseur sollte jemand sein, der die Fähigkeit hat, Geschichten zu erzählen und dabei Menschen wirklich Fleisch und Blut zu geben. Dann braucht er natürlich eine ganze Menge sehr schätzenswerter Sekundärtugenden. Er muss sehr geduldig sein, das bin ich zum Beispiel nicht, beharrlich, glaube ich, bin ich schon eher. Eigentlich ist man beim Drehen ein bisschen wie ein Gastgeber, denn in der Drehphase geht es auch da drum, dass die Leute, die da jeden Tag an den Set kommen, sich auch zusammen über eine längere Strecke wohl fühlen und zu einer Art Familie werden. Das kann, wenn die Umstände gut sind, auch ganz einfach sein, das kann, wenn die Umstände schwierig sind, auch sehr kompliziert werden. Du musst als Regisseur auch viel Konzentration darauf verwenden, ein guter Gastgeber zu sein. Also einfach nur zu sagen: Ich konzentriere mich hier komplett nur auf die Inszenierung, alles andere interessiert mich überhaupt gar nicht, finde ich eher problematisch. Manche Regisseure sind so. Aber ich glaube, bestimmte Sachen entgehen ihnen auch. Was braucht noch ein Regisseur? Er muss in all diesen ganzen Zwängen, die man als Regisseur hat – da sind ja pausenlos irgendwelche ökonomischen Zwänge da, Produktionszwänge –, er muss sich die Lust am Spielerischen erhalten. Und das kriegt man am besten hin, indem man sich ein paar Leute um sich herum sucht, die diese Lust am Spielen auch haben, also mit denen man in den Pausen einfach nur Blödsinn machen kann, Quatsch machen kann. Wenn der Humor nicht da ist, wenn ein Drehort eine humorfreie Zone ist, habe ich meine Probleme. Ich glaube, Humor ist einfach ganz wichtig. Wobei man da nichts verwechseln darf: Wenn man am Drehort über eine Szene lacht, heißt das noch längst nicht, dass das Publikum später darüber lacht.

Eine Regieleistung im deutschen Film, die dich beeindruckt hat? Beeinflusst vielleicht sogar?

Diese eine Regieleistung zu finden, das fällt mir wahnsinnig schwer. Es gibt so viele verschiedene. Im Moment bin ich gerade sehr beeindruckt von Käutner, UNTER DEN BRÜCKEN. Das ist ein Film, der gerade Gott sei Dank in einer restaurierten Fassung auf DVD rausgekommen ist, der, obwohl er 1944 gedreht ist, so frisch und so modern ist und so überhaupt nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hat, also weder ideologisch noch identifikatorisch noch von der Art und Weise, wie die Leute reden. Sondern der ein ganz anderes Bild von Menschen aus dieser Zeit zeigt, die es aber, glaube ich, auch so gegeben hat. Und in der Art, wie er gedreht ist und wie er visuelle Seite angeht und auch, wie er geschnitten ist, kann man sagen, dass er in einigen Szenen fast wie ein erster Nouvelle-Vague-Film wirkt. Ein anderer Film, den man hier kaum kennt, ASPHALT heißt er, von Joe May, den habe ich gerade erst wieder gesehen. Ein Stummfilm, aus den Zwanzigerjahren, der so extrem modern ist, der alles von dem, was damals quasi Stummfilm-Klischee war, außen vor lässt.

Und in der letzten Zeit fand ich GEGEN DIE WAND eine ziemlich beachtliche Regieleistung, auch ein sehr mutiger Film. Es fällt mir einfach schwer, nur einzelne Filme zu nennen. Ich fand zum Beispiel von Hans Weingartner DAS WEISSE RAUSCHEN einen wirklich sehr, sehr tollen Erstlingsfilm. Ich finde zum Beispiel DAS PARFUM, na gut, das ist jetzt mein Freund und Kollege, Tom [Tykwer], aber ich finde, was er im PARFUM geleistet hat, einfach nur, ja, bewundernswert. Das ist ja wirklich ein unglaublich komplexer Roman.

Dieselbe Frage, aber aus dem internationalen Kino. Wo du denkst: So möchte ich das auch mal machen. Gibt’s da Beispiele?

Es gibt unglaublich viele Beispiele von Filmen, die mich beeindruckt haben, die auch äußerst unterschiedlich sind. Ein Film, der mich wirklich beeindruckt hat, der für mich auch letztendlich nicht alt geworden ist – ich habe ihn vor Kurzem noch mal angeguckt –, ist THE CONVERSATION von Coppola. Das ist ein Film, der mich nachhaltig beeindruckt, auch heute noch. Das ist für mich einer der ganz großen Filme. Ich finde aber dann auch so einen reinen Unterhaltungsfilm wie SINGIN' IN THE RAIN toll. Wobei der an einer Stelle schon einen gewissen Schwachpunkt hat in der Handlung, wo ich damals schon dachte: Das war in gewisser Weise eine Konzession an den Hauptdarsteller. Dennoch ist es eine furios erzählte Geschichte.

Es gibt ganz kleine Filme. Zum Beispiel ein Film, der mich gerade in der Zeit, als ich selbst studiert habe, ganz am Anfang meines Studiums an der DFFB, nachhaltig beeinflusst hat, war, glaube ich, der erste oder zweite Film von Mike Leigh. Das war noch ein Fernsehspiel, der heißt MEANTIME. Kennt kein Mensch heute, da spielen so Leute wie Tim Roth, Gary Oldman ganz kleine Rollen. Das ist ein Film – ich habe ihn jetzt schon längere Zeit nicht mehr gesehen, den gibt es leider auch nicht auf DVD – der mich wirklich damals beeinflusst hat. Aus dem französischen Kino gibt es viele Filme. DER MANN DER DIE FRAUEN LIEBTE war immer einer meiner absoluten Lieblings-Truffaut-Filme.

Ein Satz dazu, was Kino für dich bedeutet?

Kino ist als Ort für mich immer ein großer, dunkler Raum, wo man mit vielen Leuten manchmal etwas ganz Magisches erleben kann. Es ist ein Ort, an dem man sich auch kurzweilig unterhalten kann, also letztendlich auch aus verschiedenen Gründen ein Ort des Trostes. Weil er einen aus dem Alltag rausnimmt und weil er manchmal auch vermittelt: Es gibt auch andere, denen es nicht so gut geht wie einem selbst. Oder das ist jetzt nicht allein mein Problem. Oder dass ein Film einen halt auch zum Denken bringt.

Kino ist natürlich auch für mich die Möglichkeit, verschiedene Interessen wie zum Beispiel die Leidenschaft für Musik, für Shakespeare, für Bilder und in diesem Fall jetzt nicht nur Fotografien, oder für bewegte Bilder, die aber trotzdem auch schon was mit Fotografie im Sinne von einer Visualität zu tun haben, zusammenzubringen. Und das stellt sich jedes Mal als eine neue Aufgabe dar. Mal steht das mehr im Vordergrund, mal steht das mehr im Hintergrund. Es ist einfach eine Chance, wo ich fantastische Gestaltungsmittel zur Verfügung habe, die ich so nicht hätte, wenn ich, ja, zum Beispiel einen Roman schreibe, was für mich zum Beispiel eine Horrorvorstellung wäre: einfach dazusitzen und einen Roman schreiben zu müssen. Ich weiß, dass es etwas ganz Tolles ist, einen Roman zu schreiben, Menschen auf so eine Fantasiestrecke zu schicken. Nur meine Möglichkeit ist es nicht. Und das schätze ich am Kino, weil ich diese verschiedenen Gestaltungsmittel zusammenbringen kann.

Eine letzte Frage: Wenn du nicht Regisseur wärest, könntest du dir noch einen anderen Beruf beim Film vorstellen?

Ich habe ja als Kameramann angefangen. Das war meine Wahl auf der Filmschule. Ich bin mehr von anderen zu der Entscheidung für die Regie gebracht worden, als ich von selbst dazu gekommen bin. Ich habe einfach keine Kamera-Angebote mehr bekommen, als mein erster Film, bei dem ich Regie geführt habe, erfolgreich wurde. Da habe ich dann gedacht: Na ja, dann guck mal, ob das jetzt eine Eintagsfliege war. Aber die Kamera wäre schon der erste Bereich. Was ich auch sehr, sehr interessant finde, ist Sounddesign. Das könnte ich, glaube ich, auch ganz gut, würde mir Spaß machen. Was ich ganz sicher nicht machen wollte, ist Drehbuchautor. (Lacht)

Das Interview führte Tobias Kniebe.

 

Wolfgang Becker wurde 1954 in Hemer/Westfalen geboren. Nach dem Abitur studierte er an der FU Berlin Germanistik, Geschichte und Amerikanistik. Danach nahm er ein weiteres Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) auf, spezialisierte sich als Kameramann und assistierte Michael Ballhaus und Istvan Szabó. Mit seinem Abschlussfilm "Schmetterlinge" machte er erstmals auf sich aufmerksam. Die Adaption einer Geschichte des britischen Autors Ian McEwan gewann den Student Film Award (i.d. Oscar für den besten Studentenfilm) in Hollywood, den Goldenen Leoparden des Filmfestivals Locarno sowie den Preis des Saarländischen Ministerpräsidenten beim Max-Ophüls-Festival 1988. Nach dem mit Begeisterung aufgenommenen Tatort "Blutwurstwalzer" (1991), drehte Becker mit dem Kindheitsdrama "Kinderspiele" (1992) ein überdurchschnittliches Fernsehspiel, das auch im Kino ausgewertet wurde.

1997 feierte DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE auf der Berlinale seine Premiere und wurde zu einem bemerkenswerten Erfolg in den Kinos. Der Film brachte Jürgen Vogel, der einen unglücklich verliebten Tagträumer spielt, das Filmband in Gold beim Deutschen Filmpreis ein. Zugleich war es der erste Film der Firma "X Filme", die Becker mit Tom Tykwer, Dani Levy und Stefan Arndt als alternatives Produktions- und Verleihmodell gegründet hatte. 2001/2002 drehte Becker den Spielfilm GOOD BYE, LENIN!, der 2003 mit immensem Erfolg in den deutschen Kinos startete, auch international große Anerkennung fand und mit neun Deutschen Filmpreisen ausgezeichnet wurde. 

Erst mit DEUTSCHLAND '09 – 13 KURZE FILME ZUR LAGE DER NATION (2009) war er wieder als Regisseur aktiv. Der Episodenfilm, ein Großprojekt mehrerer bedeutender Regisseure, die auf unterschiedliche filmische Weise ihre Wahrnehmungen von Deutschland präsentieren, feierte bei der Berlinale 2009 Premiere.

Erst zehn Jahre nach dem Welterfolg von GOOD BYE, LENIN! nimmt Becker 2013 erneut einen abendfüllenden Spielfilm in Angriff: Die Romanverfilmung ICH & KAMINSKI nach Daniel Kehlmann erzählt von einem selbstgefälligen Journalisten, der mit einem greisen, blinden Künstler zu einer ereignisreichen Reise durch Europa aufbricht.

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Wolfgang Becker

2013/2014 Ich & Kaminski
Drehbuch, Regie
2008/2009 Deutschland '09 - 13 kurze Filme zur Lage der Nation
Regie, Drehbuch
2006/2007 Mein Führer - Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler
Darsteller
2006 Ernst Lubitsch in Berlin
Mitwirkung
2002-2005 Wer ist Helene Schwarz?
Mitwirkung
2001-2003 Good Bye, Lenin!
Drehbuch, Regie
2002 Freitagnacht
Künstlerische_Oberleitung
1999/2000 Paul Is Dead
Regie_Sonstiges
2000 Stundenhotel
Regie
1995-1997 Das Leben ist eine Baustelle
Drehbuch, Regie, Darsteller
1994 Die Nacht der Regisseure
Mitwirkung
1993/1994 Alles auf Anfang
Darsteller
1991/1992 Kinderspiele
Schnitt, Drehbuch, Regie
1991 Blutwurstwalzer
Regie
1990 Nicht mit uns
Regie
1990 Alles offen
Kamera
1988/1989 Sturzflug
Kamera
1987/1988 Schmetterlinge
Regie, Drehbuch, Schnitt
1984 Old Man River
Kamera
1983 Ediths Tagebuch
Standfotos, Kamera-Assistenz