Eine Frau geht ihren Weg
Wie Wolfgang Kohlhaase seine universalen Geschichten im Alltag der DDR fand
„Der verwegene Gedanke, die Geschichten unseres Alltags könnten sich für den Film eignen, wäre mir ohne die italienischen Neorealisten nie gekommen."
Glossary
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Inszenierung
- Unter dem Begriff der Inszenzierung versteht man das "in Szene setzen" eines künstlerischen Werkes. Der Begriff der Inszenierung wird in der darstellenden Kunst und im Filmbereich synonym zu dem Begriff Regie verwendet. (0:30)
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Endfertigung
- Mit "endfertigen" (als Verb) wird zumeist die letzte Phase der Filmherstellung, die Postproduktion, bezeichnet. Dazu zählen Tätigkeiten wie Bild- und Tonschnitt, Tonmischung u.a. (0:34)
- Filmausschnitt
- Interview mit Wolfgang Kohlhaase
- Geschichten mit Eigenleben
- des Autors Regisseur
- Erotik und Schönheit
- die wahre Sunny
- und andere Charaktere
- Klein, Wolf, Dresen und die optische Rosine
- die Vergänglichkeit der Sprache
- ein guter Drehbuchautor ist, braucht, muss ...
- und wenn nicht ...
- DIE AFFÄRE BLUM
- Gibt es einen noch interessanteren Filmberuf?
- Interview mit Wolfgang Kohlhaase
- Filmausschnitt
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Geschichten mit Eigenleben
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des Autors Regisseur
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Erotik und Schönheit
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die wahre Sunny
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und andere Charaktere
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Klein, Wolf, Dresen und die optische Rosine
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die Vergänglichkeit der Sprache
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ein guter Drehbuchautor ist, braucht, muss ...
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und wenn nicht ...
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DIE AFFÄRE BLUM
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Gibt es einen noch interessanteren Filmberuf?
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Interview mit Wolfgang Kohlhaase
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Filmausschnitt
- Filmausschnitt
- Interview mit Wolfgang Kohlhaase
Interview mit Wolfgang Kohlhaase
Die Zusammenarbeit mit dem Regisseur, sagt der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, habe er von Anfang an als Bereicherung empfunden. Er hatte das Glück, mit seinen Partnern bei der DEFA, den staatlichen Filmstudios der DDR, ein verschworenes Team zu bilden. Gemeinsam brachten sie Geschichten aus dem Alltag auf die Leinwand, die speziell für junge Leute gedacht waren. So kam, unter der Regie von Konrad Wolf, auch das Porträt einer leidenschaftlich unabhängigen Frau zustande, die gegen die Grenzen ihres Lebens und ihrer Gesellschaft aufbegehrt: SOLO SUNNY.
Das Interview führte Tobias Kniebe.
Die Szene
Die Sängerin Sunny (Renate Krößner) gehört zu den wenigen Menschen, die in der DDR der siebziger Jahre dem Traum vom wilden Leben nachjagen: Sie ist Musikerin, endlos auf Tour durch die Provinz. Dass die Realität dieses Berufs oft hart ist, erlebt sie schnell: Wenn männliche Bandmitglieder sie bedrängen, wenn Kollegen nicht mehr aus dem Vollrausch aufwachen, wenn der müde Conferencier seine schlechten sexistischen Witze auf ihre Kosten reißt. Sunny beschließt, sich nichts gefallen zu lassen – um keinen Preis.
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Könnten Sie beschreiben, was für Sie die besondere Faszination des Schreibens für den Film ausmacht?
Na ja, ich komme eigentlich vom Schreiben, ich war am Anfang bei der Zeitung und Journalist. Nebenbei gesagt, es hatte mit der Nachkriegszeit zu tun: Mit sechzehn Jahren hatte ich einen Tisch in einer Redaktion – kann man heute alles nicht glauben – und wollte eigentlich Prosa schreiben, aber ich wollte das auf eine spielerische Weise. Ich war also nicht programmiert auf Romancier oder so was. Und wie manche Dinge im Leben zufällig sind, bin ich mit Freunden zusammengekommen – der eine wollte Schauspieler werden, der andere war in dem damaligen DEFA-Studio Regisseur. Ich lernte also ein paar Leute kennen und kam auf den Gedanken: Man könnte ja auch Filme schreiben. Und natürlich war Film so eine Imponierwelt. Also ich meine, alleine zu schreiben war eine relativ keusche Beschäftigung, aber Film hatte natürlich Farben und Geruch und Mädchen und Jungs und Bedeutungen und Scheinwerfer. Das war wirklich auf eine naive Weise verlockend, abgesehen davon, dass ich sozusagen unablässig ins Kino ging und mir ein Weltbild aus Filmen aufbaute. Ich habe ja im Februar 1945 noch KOLBERG gesehen, den letzten großen Durchhaltefilm der Nazis, die das Publikum sozusagen in Nibelungen verwandeln wollten. Und es vergingen drei Monate in diesem unglaublichen Frühling und Sommer 1945, und man sah die ersten sowjetischen Filme, enorm eindrucksvolle Filme, und kurz danach waren die ersten Amerikaner da. Der erste amerikanische Film, außer meinen Kindheitsfilmen mit Shirley Temple, war DIE SPUR DES FALKEN. Und dann kamen die englischen, und, ich glaube, ein gutes Jahr später kam ein so ungeheurer Film wie KINDER DES OLYMP. Die Filme brachten neben allem anderen, das man erlebte und plötzlich zu begreifen begann, große Nachrichten in mein sozusagen gerade begonnenes Leben als Erwachsener. So kam auch dort die Verführung von der Leinwand. Und als ich dann darüber nachdachte – Was kann man da für Filme machen, kann man das überhaupt machen, kann man sich das trauen? –, da waren für mich die Neorealisten sehr wichtig. Weil ich Kino natürlich immer gern für etwas Abgehobenes gehalten habe: Menschen im Kostüm, feinere Leute eigentlich, Leute zu Pferde. Und die Neorealisten machten plötzlich die Geschichten, die an der Ecke spielten. Und die Geschichten hatten mit unseren eigenen Geschichten, den tatsächlichen, eine Menge zu tun. Der verwegene Gedanke, die Geschichten unseres Alltags könnten sich für den Film eignen, wäre mir ohne die italienischen Neorealisten nie gekommen. Und so verdanke ich also meine große und sozusagen konstituierende Ermutigung den neorealistischen Filmen.
Wie war es vom Traum “Kino“ sozusagen in die Realität des Autorenlebens einzusteigen? Zu erleben, welche Veränderungen die eigene ursprüngliche Idee durchmacht, oder dass man sich mit anderen mächtigen Kräften auseinandersetzen muss?
Das habe ich eigentlich von Anfang an nicht als Drohung erlebt, sondern als Chance. Das hängt aber damit zusammen: Ich machte meine ersten vier Filme mit einem Regisseur, mit [Gerhard] Klein, der vor längerer Zeit gestorben ist. Der war zwar älter, er kam aus dem Krieg, aber er kam auch aus ähnlichen Ecken in Berlin wie ich. Und er war ein Kinoverrückter. Der wurde mein Partner, wir lernten uns kennen, weil die DEFA damals im Studio so eine Abteilung gegründet hatte. Und es hieß, es sollen im Jahr zwei Filme für junge Leute gedreht werden – abendfüllende Filme. Und da waren wir aus dem einzigen Grund, weil wir jung waren, genau die Richtigen. Und Klein war ein Mann, der in Bildern dachte, der in Film dachte, in Dramaturgie dachte, aber eine gefühlte Dramaturgie ist vielleicht die beste, die du haben kannst – da musst du nicht nachlesen. Und der kam also überhaupt nicht vom Schreiben oder von der literarischen Seite und war gerade deshalb für mich ein so erfreulicher, produktiver Partner. Wir waren von Anfang an [dabei]. Und bevor überhaupt andere Leute auftauchten, sagten wir: Wir sind zwei. Du schreibst den Film, ich inszeniere den Film. Und ausgedacht haben wir ihn uns gemeinsam, indem er sagte: Wie denkst du dir einen Film aus? Du versuchst ihn dir zu erzählen und stellst ihn dir so schön vor, wie es geht. Ich denke heute noch: Die ausgedachten, die gedachten Filme sind die schönsten, weil man bei denen nix falsch machen kann. Und dann schrieb ich das, und er inszenierte es, und wir kümmerten uns um alles gemeinsam. Er hätte den Film z.B. nicht besetzt, ohne dass wir das besprochen haben. [Aber] wir wussten nie: Was macht man mit Musik zum Beispiel? Wir hatten keine Ahnung, also große Frage immer: Wir wollen Musik haben, aber was für welche? Sonst aber haben wir alle diese Dinge – bis hin zum Schnitt, wenn ich dann zum Schneideraum fuhr und ihm über die Schulter guckte, nicht ununterbrochen, aber immer wieder –, zusammen gemacht, so dass ich eigentlich nicht das Gefühl hatte: Ich bin ein Mensch, der ein Halbfabrikat abliefert und am Ende nach Hause geht und nicht weiß, was daraus wird. Und was die späteren, die anderen Leute betraf, die dazukamen – also die Produktion, das Studio, die Kamera –, die waren natürlich eine wunderbare weitere Dimension des Denkens, des Nachdenkens über den Film. Das war ja nicht konfliktbesetzt, und da wir zu zweit waren, waren wir eigentlich eine gewisse Macht. Mit uns war nicht ohne Weiteres zu reden, wenn wir nicht zuhören wollten. Weil: Wer will uns den Film erklären? Wir wollen ihn ja machen! So sind wir eigentlich auch mit dem Selbstvertrauen von Anfängern an alles rangegangen. Nicht jeder Anfang hat was Träumerisches, sagten wir, jetzt kommen wir und machen Filme. Das war ein bisschen töricht, aber es gibt ja auch den Elan, den du brauchst.
Dazu kam, dass wir Angst vor dem Studio hatten. Im Studio saßen die Profis, die machten ihr Leben lang Filme und saßen gelangweilt hinter ihren Lampen. Und wir dachten: Die wissen alles besser. Während wir uns auf der Straße beim Drehen eigentlich wohl gefühlt haben, weil da niemand war, außer uns, und wir dachten: Das kann man sich zutrauen, auf der Straße zu drehen. Gerade auch die Art Filme, die wir am Anfang machten, unter dem Echo des Neorealismus. Zwar waren die Schuhe uns zu groß, aber wir versuchten, die Erzählmuster des Neorealismus zu verwenden und auch seine technischen Muster. Wir drehten mit kurzen Brennweiten, und wir drehten mit Wochenschau-Material, also mit grobkörnigem Rohfilm, damit das aussah wie Leben. Und an all diesen Überlegungen war ich beteiligt, sodass ich von Anfang an einen Begriff von Drehbuchschreiben kriegte, der praktisch war.
Ich habe gelegentlich auch inszeniert, sehr selten, das stimmt. Ich habe es aber deshalb nicht kontinuierlich tun wollen und auch nicht tun müssen, weil ich immer Partner hatte, denen ich das gerne anvertraut habe: Klein, wir haben dann vier Filme zusammen gemacht und später Konrad Wolf wir haben wieder vier Filme gemacht. Und ich habe mir auch sehr früh die Meinung gebildet, dass es fürs Kino nicht schlecht ist, wenn man arbeitsteilig arbeitet. Denn wenn du alles alleine machst, ist die Strecke sehr lang. Also: Idee, schreiben, das Drehbuch irgendwie loswerden, auf diese oder jene Weise inszenieren, endfertigen – und wenn es dann nichts wird, ist der Fall sehr tief. Und ich habe immer gedacht: Man soll sich die Freude teilen, unter Umständen auch den Kummer. Es schien mir: Das ist eine so synthetische Art von Kunst, das Kino, und nimmt aus allen Ecken etwas. Deshalb dachte ich: es kann nicht falsch sein, wenn einer das Drehbuch schreibt und der andere es inszeniert. Sie wissen, Genie muss nicht verhandelt werden, Genies können immer alles, aber wir reden ja übers Handwerk und über den Beruf – und da scheint mir die Arbeitsteilung vernünftig zu sein.
Aus Frankreich kam das Idealbild des "Auteur", der beides kann. Und später gab es den Autorenfilmer in Deutschland, der noch heute hoch angesehen ist. Hat Sie das nie gereizt, diese zusätzliche Rolle, dieser doppelte Ruhm?
Nein, eigentlich nicht. Sagen wir mal, dieses französische Phänomen hat im Osten bei uns auch nicht dieselbe Rolle gespielt. Möglicherweise wusste man davon, und man sah einige der Filme, und man wusste, das waren Leute, die zum Teil von der Kritik kamen und in der Woche 34 Filme ansahen. Da war eine enorme Leidenschaft dahinter, das hat einem alles irgendwie gefallen, aber es war nicht unsere direkte Nachbarschaft. Ich meine, man war ja auch nicht in der Lage, da hinzufahren und mal zu gucken: Wie machen die das? So bin ich eigentlich bei dieser Art von Haltung zum Filmemachen geblieben. Noch aus einem anderen, ganz privaten Grund: Ich habe immer damit geliebäugelt, kleine Prosa zu schreiben. Ich habe das dann auch gemacht, immer mal ein paar kleine Erzählungen geschrieben. Ich hatte eher das Gefühl, ich will mal mit einem Fuß raus aus dem reinen Kinobetrieb, habe auch ein paar Hörspiele geschrieben. Ich suchte mir also eher Nebentätigkeiten im Feld des Schreibens, anstatt noch tiefer reinzugehen in das Filmemachen.
Gibt es eine besondere Schönheit oder Erotik des Schreibens, die kein anderer Filmberuf hat?
Ob es eine besondere Erotik ist, kann ich nicht sagen. Aber ich habe immer gesagt: Wenn man beispielsweise Prosa schreibt, schreibt man bei geschlossener Tür. Und wenn man Filme schreibt, Drehbücher schreibt, schreibt man bei offener Tür. Und man hat immer Geräusche und Stimmen hinter der Wand, und immer kommt einer rein und sagt: 'Wie weit biste denn?' Das Vergnügen, das ich immer empfunden habe, kam, weil ich gern an Schauspieler gedacht habe beim Schreiben. Natürlich hab ich an meine Figuren gedacht, aber die Figur kommt ja auf die Welt als Rolle für einen Schauspieler. Ich habe immer an Schauspieler gedacht, nicht so gezielt, dass ich gesagt habe, ich schreibe für den oder diese die Rolle, sondern überhaupt an Schauspieler, als Möglichkeit, als Schönheit. Und bis heute ist es faszinierend, dass man sich hinsetzt und sich eine Geschichte ausdenkt. Okay, dann steht sie auf dem Papier, möglichst brauchbar und genau. Aber dass sich dann Erwachsene verkleiden und plötzlich werden daraus sozusagen Figuren, als ob sie aus dem Leben wären, das hat für mich bis heute einen Zauber. Ich versuche, an Schauspieler zu denken, wenn ich Dialoge schreibe: Sie sollen es gut haben. Wenn es die Schauspieler gut haben, hat es der Film gut. Also, das ist für mich bis heute eine Realität. Und gut, jetzt kannst du sagen: Die hat dann auch was Erotisches, im allgemeinsten Sinne: Jetzt wird Fleisch und Blut angeschafft, mit Hilfe der Schauspieler. So gesehen: ja.
Jetzt zu dem Film SOLO SUNNY, aus dem wir einen Ausschnitt zeigen wollen. Können Sie sich da an den Keim einer Idee erinnern, ein Bild oder eine Figur?
Ja, natürlich. Ich kannte Leute, die auf eine ähnliche Weise, wie man es im Film auch sieht, in Berlin lebten, sehr oft auf dem Prenzlauer Berg. Und die sich in dieser Tingeltangelszene gegenseitig halfen und einen großen Traum hatten, der mag vernünftig oder unvernünftig gewesen sein. Dies alles kannte ich aber über viele Jahre – wissen Sie, Stoff sammelt sich manchmal unmerklich, Stoff wird ja nicht über Problemstudium erworben. Sondern du triffst Leute – und da bleibt dir was hängen, dort nimmst du einen Satz mit. Und eines blauen Montags, möchte ich sagen, dachte ich: Das ist ja vielleicht ein Film. Und der Film war natürlich von allem Anfang an die Figur. Das heißt, dieses Mädchen, so wie sie da beschrieben ist, unbegabt für Kompromisse, verletzlich, aber auch verletzend. Das macht, glaube ich, den Film aus. Und diese Figur war da, bevor ich überlegt habe: Wie könnte denn die Geschichte um diese Figur herum sein? Man streitet ja oft: Was ist zuerst da – die Handlung oder der Charakter? Es ereignet sich auch mal so und mal so, aber in diesem Fall war die Figur ganz eindeutig der Anfang. Irgendwann hatte ich dann auch den Titel. Ja, ich hatte, glaube ich, erst “Solo für Sunny“, und eine Kollegin sagte dann: Lass das “für“ weg‚ “Solo Sunny“ ist besser. Da sagte ich: Haste recht. So ist der Titel entstanden. Man zittert ja manchmal: Man hat einen Film und immer noch keinen Titel, den man gerne hätte.
Als die Figur da war, war eigentlich die Gangart des Films erfunden. Und das habe ich dann Konrad Wolf erzählt, mit dem ich ja vorher schon drei Filme gemacht hatte, es war unser vierter Film. Und der wusste über Berlin und über diese Art von Leben viel weniger als ich. Er war in dieser Stadt nicht groß geworden, er war ja als Kind in Moskau gewesen. Aber er war natürlich sofort neugierig auf diese Dinge, wie er überhaupt ein neugieriger Mensch war. Als Regisseur ging er nicht vor die Haustür, um das zu finden, was er ohnehin schon wusste, um sich Bestätigung zu suchen. Sondern er ging wirklich vor die Haustür, um das zu finden, was er nicht wusste. Das ist vielleicht überhaupt eine Dimension von Talent: dass du neugierig bleibst. Und überdurchschnittlich neugierig bleibst – auf Menschen, auf Welt, auf Dinge. Also, er wollte das auch gerne machen, und dann haben wir verhältnismäßig früh die Hauptdarstellerin gefunden, Renate Krößner. Wir mochten sie, und wir mochten, dass sie so zwischen schön und hässlich changierte: dass sie nicht ein für alle Mal ein Gesicht hatte, sondern verschiedene Gesichter. Und wenn du die Hauptdarstellerin hast, hast du die Mitte. Also konnten wir dann drum herum besetzen.
Diese Figur – stand die eines Tages, sozusagen in der Fantasie, plötzlich vor Ihrer Tür? Oder kannten Sie tatsächlich ähnliche Frauen?
Ich kannte solche Frauen, ja, natürlich. Ich meine, man schreibt ja immer irgendwo ab, nicht buchstäblich, und man baut dann ja manchmal auch aus zwei, drei Menschen, die man kennt ein – man nimmt Züge. Denn am Ende ist eine Kunstfigur, es ist ja kein Dokumentarfilm. Aber natürlich, ich kannte solche Mädchen.
Ist das etwas, was Sie immer fasziniert hat in Ihren Geschichten, dieses: zum Kompromiss unbegabt zu sein? Was ja in jener Zeit in der DDR das Leben sicher sehr schwierig machte.
Der Film, der spielte natürlich in der DDR der späten siebziger Jahre, um die achtziger Jahre herum. Und hatte in dem Sinne natürlich die Farben der damaligen Zeit und die Farben der Situation, so wie sie dort war. Aber ich glaube, die Geschichte, dass die Welt dich mit Kompromissen umzingelt, dass für dich möglicherweise ein Platz vorhanden ist, es ist nur nicht der Platz, den du gerne hättest – das ist sicherlich ein universales Thema. Das war [der Grund], weshalb der Film auch ohne Schwierigkeiten über alle Grenzen gesprungen ist. Mit dem Film war ich wirklich von Amerika bis Armenien. Und du musstest nie fürchten, dass du – was man ja nicht gerne erlebt – am Ende einem gelangweilten Publikum in die ermüdeten Augen siehst, sondern immer funktionierte dieser Film, die Leute blieben da. Ich will sagen, das ist sicher ein Thema, das es nicht nur in der DDR gab. Wenn ein Film, sagen wir mal, die Zäune überspringt oder auch die Zeit überbrücken kann, dann muss er ja etwas von allgemeinerer Bedeutung haben. Und dann war es natürlich noch was – aber das hatte ich nicht so geplant: Weil er in dieser Szene spielt und dadurch eine gewisse Buntheit hatte, war in der Geschichte eine Art Kinomuster: Es war eigentlich das Mädchen mit dem goldenen Herzen, das es besser verdient hätte. Das gibt es rund um die Welt, solange es Kino gibt. Es ist so ein Archetyp von Figur, und das hat sich dann irgendwie eingefunden.
Trotzdem: Es scheint, als hätten Sie eine besondere Ader für dieses Rebellische.
Ich weiß nicht. Da müsste ich alle Filme durchgucken. Und da gibt es auch weniger rebellische, glaube ich. Ich glaube allerdings: Wirklich kein Mensch hat nur unrecht, davon bin ich generell überzeugt. Und ich glaube auch: Jeder Mensch hat einmal, möglicherweise nur einmal, und wir können uns alle dazu zählen, einen wirklich großen Moment. Den muss man ihm zugestehen. [Damit] will ich sagen: Ich interessiere mich für den Einzelnen oder die Einzelne und für das Recht, das jeder auf seine eigene Wahrheit hat, natürlich innerhalb der Spielregeln, innerhalb der vorgegebenen Umstände: Du suchst dir deine Zeit nicht aus, du suchst dir deine Eltern nicht aus, du suchst dir dein Land nicht aus – und dann bist du aber trotzdem nur du, alles andere gehört dazu. Das sind Bedingtheiten, und dann bist du trotzdem der Besondere, je nachdem, was du daraus machen kannst. Sagen wir mal: Diese Aufmerksamkeit für das Recht des Einzelnen auf seine eigene Idee von sich selbst, das geht mich etwas an, egal, welche Geschichten ich zu erzählen versuche. Das ist aber größer gesehen als zu sagen: Ich gucke nach Rebellen.
Berlin spielt ja auch eine große Rolle für diese Figur, und sie kehrt auch immer wieder dorthin zurück. Wie wichtig waren für Sie bestimmte Plätze, Viertel, Straßen in Ihrer Arbeit, auch in Ihrem Leben?
Na ja, Berlin ist eigentlich der einzige Ort auf der Welt, wo ich Bescheid weiß, [...] vielleicht ein bisschen mehr weiß als andere. Und als wir [Anfang der fünfziger Jahre] anfingen, drehten wir vorwiegend im Prenzlauer Berg. [...] Sowohl Kreuzberg als auch Prenzlauer Berg waren alte Berliner Bezirke, die der Krieg nicht flachgemacht hatte. Wenn Trümmer in einer Geschichte vorkommen, muss die Geschichte mit den Trümmern zu tun haben [...] Wir suchten natürlich in der Nachkriegszeit gleichzeitig nach Straßen und Plätzen, in denen Normalität war und nicht ununterbrochen der letzte Luftangriff sozusagen in der Kulisse noch herumstand. [...] Aber natürlich lebten dort auch die Leute, über die wir damals Bescheid wussten … die passten an diesen sozialen Ort. [Gerhard] Klein kam aus Kreuzberg, ich kam aus einem Berliner Vorort, Adlershof. Über diese Leute wussten wir Bescheid, und andere Geschichten wären uns gar nicht eingefallen, jedenfalls nicht Alltagsgeschichten [...]
Ich bin, was [Prenzlauer Berg als Drehort] betrifft, ein Wiederholungstäter, weil ich dann noch einen Film dort gedreht habe, eigentlich noch einen, der kam allerdings lange Zeit nicht raus, das hatte mit der besonderen Lage damals in der DDR war, zu tun. Dann kam SOLO SUNNY , der zum großen Teil auch wieder in dieser Ecke [spielt], und jetzt mit Dresen, bei SOMMER VORM BALKON, ist es wieder dieselbe Ecke. Wir sind sogar in einem Fall [beim Dreh von SOMMER VORM BALKON] vorsätzlich an eine Brücke gegangen, an so eine Fußgängerbrücke, die über diese S-Bahn-Schlucht [führt und haben gesagt]: Hier drehen wir, denn dort haben wir schon vor 25 Jahren gedreht, und dort ist Sunny rübergelatscht mit einer Tasche in der Hand. Irgendetwas machen wir an dieser Brücke! Haben wir dann auch gemacht. Das war dann natürlich Spaß.
Aber ich glaube, man muss sich ja mit dem Regisseur einigen: Was willst du für einen Film machen? Und mit all den Leuten, ob das Klein war oder im Falle von SOLO SUNNY Konrad Wolf oder jetzt Andreas Dresen: Wir waren nicht auf eine Art von Berlin-Film aus, der sich in der gesamten Stadt Rosinen zusammensucht, optische Rosinen, und sie zu einer imaginären Stadt zusammensetzt. Sondern wir dachten: Lass uns in eine geeignete, unter unserem Gesichtspunkt attraktive, aber vielleicht partiell auch unansehnliche Ecke gehen, und lass uns versuchen, innerhalb dieses Quadratkilometers ein authentisches Bild von Stadt zu gewinnen. Wollen wir uns dort anstrengen und nicht von der schönsten Brücke zum schönsten Platz oder zum größten Müllkasten laufen. Also wir waren auf diese Authentizität eines Ortes innerhalb der Riesenstadt Berlin aus, wo du hundert verschiedene Filme drehen kannst. Und deshalb auch immer wieder diese Rückkehr zum Prenzlauer Berg.
In dem Ausschnitt, den wir zeigen wollen, sieht man Sunny – eine starke, man würde sagen – moderne Frau, die auch heute noch sofort fasziniert. Die Männer um sie herum wirken wie aus der Zeit gefallen. Sie können mit ihr nicht mithalten. Sind das realistische Männer, oder sind die besonders gestaltet, im Kontrast zu dieser Frau?
Gut, wenn ich die Geschichte ihres Alleinseins erzählen will, brauche ich Figuren, mit denen sie nicht zusammenkommt. [...] Das bestimmt natürlich ein bisschen den Blick auf die Männer. Aber ich wollte die Männer nicht generell anders klassifizieren als die Frauen. Ein bisschen hat es vielleicht wirklich mit der Realität zu tun, über diesen Film hinaus gedacht. Es hatte sich – wahrscheinlich genauso in der BRD, aber jedenfalls in der DDR – für die Frauen sehr viel mehr geändert im Laufe der Jahre als für die Männer. Die Männer sind eigentlich in ihren Rollenmustern geblieben, den lange überkommenen. Aber die Frauen arbeiteten zum Beispiel, und zwar zu hohen Prozentzahlen. Sie mussten trotzdem in den traditionellen Rollen spielen, die Kinder waren immer noch da, ein Haus, ein Haushalt musste immer noch geführt werden. Also diese, sagen wir mal, höhere Form von Gleichberechtigung war mit einer Doppelbelastung verbunden. Es war also keineswegs die reine Heiterkeit, das kann man wirklich nicht sagen. Aber trotzdem hat es die Lebenslagen sowohl der Frauen als auch der Männer berührt. Und was mir jetzt einfällt zum Beispiel – vielleicht stimmt es nur für Berlin, aber das spielt keine Rolle, die Zahl ist interessant: Ich glaube, 60 Prozent aller Scheidungen damals in Ostberlin, wurden von Frauen eingereicht. Nun ist das ja keine Nachricht über eine gelungene Gesellschaft, so meine ich es nicht. Aber es zeigt, dass sich die Muster, die Verhaltensmuster, verschoben haben und dass Frauen in einer anderen Weise, und das ist ihnen sicher schwer gewesen, weniger abhängig waren. Es war etwas anders verteilt. Die große Schwierigkeit war nicht, geschieden zu werden, sondern eine Wohnung zu kriegen – da hast du wieder einen Filmstoff. Leute, die geschieden waren [...], wohnten dann weitere zwei Jahre in derselben engen Behausung. Auch wenn man in die damalige Literatur guckt oder auch die DEFA-Filme anschaut, gibt es möglicherweise schönere Frauenrollen oder einen genaueren Blick auf Frauen als auf Männer. Da gibt es ja auch noch andere Filme, SOLO SUNNY ist nicht der einzige, und das könnte mit diesem allgemeinen verschiedenen Lebensgefühl zu tun haben. Ich habe nicht vorsätzlich irgendetwas über Frauen oder für Frauen machen wollen. In SOMMER VORM BALKON sind nun – viele Jahre später wieder die Frauen [das Thema], und im weitesten Sinne sind es Verwandte von Solo Sunny. Es berührt mich vielleicht stärker, aber ich könnte ja auch sagen, ganz allgemein: Da jeder zweite Mensch eine Frau ist, ist da schwer dran vorbeizukommen, auch im Kino.
Trotzdem fällt auf, dass es nur wenige Männer gibt, denen man, aus heutiger Sicht so etwas wie Coolness zusprechen würde. War das eine bewusste Entscheidung, oder hat man die Männer, die man da jetzt sieht, eingefroren in dieser Zeitkapsel Ende der siebziger Jahre in der DDR? Fand man die damals cool, so wie sie waren?
Ich glaube, das Wort gab es gar nicht, den Begriff gab es nicht. Da müsste ich mich sehr irren. Und damit gab es auch nicht dieses Haltungsideal: Man ist cool. Nein, kann ich nicht sagen. Mich hat an den Männern zum einen die biedere und durchaus verlässliche Variante des Taxifahrers interessiert, der es gut meint und letzten Endes aber nicht das Ziel ihrer Träume ist. Und auf eine andere Seite scheitert die Beziehung mit diesem relativ unbeschäftigten Philosophen, der auf dem Hof wohnt, deshalb weil er Konflikte denken kann, sie aber Konflikte leben muss. Also geht das letzten Endes nicht zusammen. Wissen Sie, ich hatte kein Programm, ich habe nicht soziologisch überlegt: Ich arbeite jetzt den Typ ab und den Typ. Ich wollte eine Geschichte erzählen, die unter anderem auch davon handelt, was jeder kennt: Man kann sich verpassen, und du kommst mit jemandem im Leben nicht klar, vielleicht ist es sogar der Richtige, aber es ist ein Jahr zu früh oder zu spät. Die gegenseitigen Momente passen nicht zusammen. [...] Im Sunnys Umfeld existierten diese Art von Männern, also die Kumpels aus der Kapelle sozusagen, die für die schnelle Nummer zuständig waren, und der Redliche, der sie wirklich liebt, auch wenn sie fern von ihm ist, und der andere, für den sie ein bunter Vogel ist – und ehe er sie begreift, ist die Geschichte eigentlich schon vorbei und kaputt. [...] Geschichten, wissen Sie, wenn sie gut sind – und unterstellen wir mal, die ist ganz gut –, sind klüger als die Leute, die Geschichten machen. Denn die Geschichte begegnet einem riesigen Publikum, das seine eigenen Erfahrungen mitbringt. Und jede Erfahrung kreuzt sich an irgendeinem Punkt – jede einzelne [Erfahrung] im Publikum – mit dieser Geschichte. [...] Und da entstehen Wirkungen und Gedanken und Assoziationen, die kannst du nicht vorher bedenken. Es wäre absurd, sich das vorzunehmen. [...]
Überhaupt stecken in Geschichten in meinem Verständnis immer eine gewisse Naivität. Und man schreibt ja eine Geschichte nicht, weil man etwas sicher weiß, sondern weil man versuchen will, etwas herauszufinden, und weil das Aufschreiben verbindlicher ist, als wenn man da nur mal so drüber nachdenkt und mit drei Freunden drüber redet. Das Aufschreiben zwingt dich zu einer anderen Genauigkeit, dann denkst du über die Lebenslage von Personen nach: Wie kann man aus diesen Lebenslagen spielbare Situationen für Schauspieler machen? Und wenn du das in der Arbeit bewältigst, bist du klüger, als du vorher warst. Aber die Klugheit ist nicht der Anfang von allem. Der Anfang von allem ist das Interesse.
Man stellt sich dieses Milieu der Musiker eher fortschrittlicher und freier vor. Trotzdem entsteht im Film aus der Art, wie sie spielen, und aus ihrer Kumpanei eine bedrückende Enge. Man versteht sofort, warum die Frau darin erstickt. War das bewusst so geschrieben? Oder war die Realität einfach so?
Das war sicherlich auch in der Realität so. Stellen Sie sich diesen Tourneebetrieb vor. Nebenbei gesagt, war dieses Feld von Kunst und Gelderwerb weitgehend privat. Das weiß man gar nicht so, weil man denkt, da war alles staatlich. Das heißt, die machten ihre eigenen Verträge, die hatten eine Lizenz, die Lizenz mussten sie kriegen, also so wie ein Schauspieler normalerweise eben auch einen Bühnenabschluss hat. Und dann stellten die sich ihre Solisten ein, wenn der Bandleader eine Lizenz hatte, dann suchte er sich die Truppe zusammen. Und er konnte sie anstellen, und er konnte sie auch wieder innerhalb gewisser Regeln entlassen. Das war ein Unternehmen, wenn man so will. Und wenn Sie sich jetzt vorstellen, Sie machen Tourneebetrieb, und Sie fahren mit denselben siebeneinhalb Leuten monatelang durch die Gegend, dann entsteht schon so etwas wie ein Gruppenzwang. Und der kann angenehm sein, aber der kann natürlich auch der blanke Terror sein, wenn Konflikte entstehen. Und nichts anderes will der Film mitteilen: man kann verloren gehen, oder man kann Schaden nehmen. Das haben wir beiläufig erzählt, und Sie können davon ausgehen, etwa so war es auch. Es gab ja wahnsinnig viele, die so herumgereist sind.
Der einzige Einspruch, dem ich damals begegnet bin, kam von den Conférenciers, die hatten auch so eine Art Conférenciers-Gewerkschaft oder was. Die haben sich bitter beklagt, dass der Conférencier auf diese Weise beschrieben ist. Und nun, normalerweise denke ich, man sollte keine Personen auftreten lassen, nur um ihnen unrecht zu geben. Bei diesem Conférencier war das aber ein Grenzfall. Aber ich habe unter so vielen kalauernden Conférenciers gelitten im Laufe meines Lebens, dass ich hier eigentlich nichts Unzulässiges tue. Abgesehen davon, dass der nun als Figur wiederum ganz schön ist, der hat ja Kraft. Nur es gab, das erzähle ich jetzt mal in Klammern, einen merkwürdigen Zuständigkeitswahn in der DDR: Wenn etwas auf der Leinwand oder im Fernsehen erschien, ganze Berufsgruppen protestierten. Sagen wir mal, die Post protestierte, wenn ein klauender Briefträger vorkam. Das hieß dann: Wir können unsere Briefträger, das wissen wir doch, nicht so gut bezahlen, wie sie bezahlt werden sollten. Jetzt kommt im Fernsehen ein Stück, da handelt es sich um einen Briefträger, der Weihnachtspäckchen klaut. Das können wir unseren Briefträgern nicht antun. Ich weiß, es hört sich jetzt ganz dumm an, hat auch was Rührendes, es ist ein Aberglaube an die Macht der Kunst.
Diese Musikerszene hat auch eine ganz spezielle Sprache, die heute fremd erscheint. Haben Sie da auch eine überhöhte Sprache gewählt?
Wissen Sie was: Das Unmodernste ist die Mode von gestern. Also wenn Sie glauben, Sie kriegen irgendein Stück Wirklichkeit in die Texte, indem Sie das allgemeine Gelaber abschreiben – da irrt man sich sehr, das ist morgen schon mausetot. Ich habe auch – gerade wenn wir über Reden in Berlin, also über Texte in Berlin sprechen –, ich habe niemals Ausdrücke notiert oder so was, weil das tödlich ist. Die sagen fünf Jahre lang “dufte“, dann kommt dein Film raus, und sie sagen “cool“. [Und alle denken]: Was ist denn das für ein Film, wo die Leute “dufte“ sagen! Sie dürfen die Leute gar nicht erst “dufte“ sagen lassen, Sie dürfen sie auch heute nicht “cool“ sagen lassen. Sondern hinter diesen Ausdrücken, die wechseln und modisch sind und die Sprache im Alltag lebendig machen, steckt ja was anderes. Dahinter stecken Denkweisen und Gefühlsweisen in der Sprache, und die muss man erwischen, dann erwischt man auch das Zeitgefühl. Also gerade die Musiker hatten eine Art Klappe, haben sie immer – gerade dadurch, dass sie tingeln und immer unter sich sind, immer diesen nicht gesicherten Stolz von der Bühne verströmen. Die hatten sicherlich keine Geheimsprache, aber sie sprachen in Kürzeln und hatten diesen coolen – würde man heute sagen – Ton. Aber da war mir klar: Das kann ich nicht gebrauchen. Ich würde nicht vor die Tür gehen mit einem Notizblock, um mir Ausdrücke aufzuschreiben.
So ein Wort wie “Eckenpinkler“ war das damals gebräuchlich?
“Eckenpinkler“ habe ich mal irgendwo gehört, und das hat mir so gefallen, dass ich es behalten habe, und es fiel mir wieder ein. Es war nicht gebräuchlich, nee, nee, “Eckenpinkler“ war auch irgendwie ungewohnt. Und deswegen hat es auch Freude gemacht im Kino.
Was zeichnet einen guten Drehbuchautor aus?
Tja, wer das wüsste! Na ja, ganz allgemein. Erst mal muss er, glaube ich, ein paar Eigenschaften haben: Er muss sich für Menschen interessieren, ihm muss die Welt sinnlich begegnen. Und er braucht eine Dimension von poetischem Wirklichkeitsverständnis, glaube ich. Und wenn es auf das Drehbuchschreiben kommt, das ja eine Unterabteilung des allgemeineren Schreibens ist, sollte er, glaube ich, etwas wissen von Dramaturgie. Und alles, was die amerikanischen Kollegen erzählen, die hier immer für schönes Geld tingeln und Sommerkurse machen, kann man bei Gustav Freytag oder bei Lessing oder bei Hegel nachlesen – man muss sich nur die Mühe machen. Also die Grundmuster – Was ist Dramaturgie und wie funktioniert sie? – kann man nicht einfach ein für alle Mal lernen, weil es in jedem Stoff anders angewandt wird. Man sollte nur wissen, dass es so was gibt. Und dann sollte man vielleicht, wenn man Drehbücher schreibt, idealerweise so etwas sein wie ein nicht inszenierender Regisseur. Das heißt, man sollte wissen: Was ist die Konsequenz von dem, was ich da hinschreibe? Also wenn ich eine Szene mit vier Schauspielern schreibe, dann sollte ich wissen: Alles beim Film geht hintereinander, es geht nichts zugleich. Also sollte die Szene eine innere Dramaturgie haben: Jetzt ist der dran, dann ist der dran, dann sind die beiden dran, dann ist wieder der dran. Es können nicht alle dran sein, und das muss ein Drehbuch im Wortsinne auf die Reihe bringen. Ein Drehbuch ist das Notieren einer Geschichte zum Zwecke ihrer Verfilmung – dafür muss es sich eignen. Dass es nun leider auch noch an irgendwelchen Kommissionen vorbei muss, ist ein bedauerlicher Umstand, aber für die ist es eigentlich nicht gemacht. Und das wär’s eigentlich. Und dann sollte man hinterher, wenn etwas nicht glückt – passiert ja öfter –, oder es wird nicht so, wie man sich’s gedacht hat, sollte man sich die Zeit nehmen zu überlegen, welchen Anteil man selbst daran hat. Manche Dinge lassen sich nicht spielen, die lassen sich lesen, aber nicht spielen, gesprochene Texte sind anders als gelesene. Mir hat jemand erzählt, dass irgendein Amerikaner, ich glaube, Robert Mitchum sich in Drehbücher immer notiert hat: No acting required, also: An dieser Stelle muss man nicht spielen. Das ist ganz richtig gesehen, wenn die Stelle am richtigen Punkt ist, musst du nicht spielen. Du bist da und guckst da hin, und das ist der Vorgang. Wenn Schauspieler verzweifelt spielen, können Sie annehmen, irgendetwas stimmt an der ganzen Sache nicht. Mit solchen Dingen sollte sich jemand, der Drehbücher schreibt, mal befasst haben.
Gibt es irgendwelche Leistungen im deutschen Film, die Sie bewundern?
Da bin ich verlegen ein bisschen … Natürlich gibt es gute Filme, mehr oder weniger gute, und manche sind einem lange in guter Erinnerung. Aber ich habe mich natürlich selten darin geübt, im Nachhinein den arbeitsteiligen Anteil des Drehbuchs an einem fertigen und funktionierenden Film zu untersuchen. Wenn der Film insgesamt gut ist oder wenn er einen bemerkenswerten, einen neuartigen Blick auf Dinge hat, dann denke ich immer: Das muss mit dem Drehbuch zu tun haben. Denn das Drehbuch ist ja die erste Hälfte des Weges. Das Drehbuch ist manchmal die Fabel, manchmal auch die Konzeption. Aber ich bin ganz verlegen, wenn ich Ihnen jetzt dafür Beispiele sagen soll. Wenn ich ganz lange zurückdenke, dann weiß ich: Es gab bei der DEFA nicht so gute, aber auch gute Filme, gerade in den frühen Jahren als wir eigentlich davon wenig verstanden, sondern unsere Geschichten so aus dem Gefühl machten: Mal sehen, wie man es machen kann. Da gab es einen Film, der hieß die AFFÄRE BLUM, der war von einem Drehbuchprofi, der schon in den dreißiger und vierziger Jahren geschrieben hat. Und wenn ich mich recht erinnere, hieß der Mann R[obert] A. Stemmle. Die AFFÄRE BLUM erschien mir damals, verglichen mit dem, was ich so versuchte und konnte, als ein Beispiel für eine durchgerechnete Geschichte, also für beherrschten Beruf, wenn man so will. Für mich eben ein Beispiel für Handwerk, fettarm, ein fettarmer Film, also sehr, sehr geradlinig gemacht und so schön ...
Und nun dieselbe Frage für die ganze Filmgeschichte ...
In der ganzen Filmgeschichte bin ich natürlich noch weniger bewandert als in der hiesigen. Aber weil ich vorhin vom Neorealismus gesprochen habe, fällt mir natürlich [Rafael] Sabatini ein – und das ist in meiner Erinnerung eine sehr große Figur. Er hat einige glänzende Drehbücher geschrieben, und er hat dieser ganzen Richtung eine Grundlage gegeben. Ansonsten glaube ich, dass glänzende Filme, auch glänzende Drehbücher haben. Und wenn man an Leute denkt wie, die zwei sind gerade gestorben, Antonioni und Bergman, – sie waren ja Autorenfilmer –sie entwickelten ihre eigenen Stoffe, auch wenn andere dabei waren und mitarbeiteten. Und so kannst du quer durch die Landschaft gehen. Das ist ja etwas, was manche Leute melancholisch macht: dass die eigentliche Qualität des Drehbuches in der Gesamtqualität eines Filmes aufgeht und verschwindet. Ich meine, man benennt den Drehbuchautor teilweise nicht mal auf den heutigen Filmplakaten: Wenn du nicht auf eine sehr nachdrückliche Weise aushandelst und dich durchsetzt, dann suchst du deinen Namen als Drehbuchautor in den Wüsteneien des Kleingedruckten. Insofern ist es auch schwer, wenn man sich nicht damit beschäftigt, zu sagen: Bei diesem Film scheint mir, besonders das Drehbuch bedeutend gewesen zu sein. Zumal sehr oft die gedruckten Drehbücher die Protokolle des gemachten Filmes sind. Also man hat hinterher das Drehbuch und den Film deckungsgleich gemacht. Selten findet man etwas, wo noch sichtbar ist: Wie war das Drehbuch zu Beginn, wie war es dann, wie war es letztendlich? Meistens kann man das nicht nachlesen, also muss ich dabei bleiben: Gute Filme haben wahrscheinlich gute Drehbücher. Haben ja auch kundige Leute wie Billy Wilder unablässig ausgerufen, diese Wahrheit.
Und ein Satz zum Ergänzen: Kino ist ...
Kino ist ein Ort der Kommunikation und nicht der Meditation.
Wenn Sie nicht Autor und manchmal Regisseur wären, gäbe es noch einen anderen Filmberuf, den Sie gern ergriffen hätten?
Einen anderen Filmberuf? Nee ...
Wolfgang Kohlhaase wurde am 13. März 1931 in Berlin geboren. Nach seinem Schulabschluss begann er als Journalist bei verschiedenen ostdeutschen Zeitungen bevor als Dramaturgie-Assistent bei der DEFA arbeitete. Ab 1952 war er als freischaffender Schriftsteller und Drehbuchautor tätig.
Sein Durchbruch gelang ihm Mitte der 1950er Jahre mit einer Reihe von neo-realistischen Filmen, die unter der Regie von Gerhard Klein entstanden. Die Filme drehten sich um Jugendliche im geteilten Berlin und wurden unter der Bezeichnung "Berlin-Filme" bekannt (ALARM IM ZIRKUS (1954), EINE BERLINER ROMANZE (1956), BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER (1957)). In Folge drehten Kohlhaase und Klein gemeinsam das historische Drama DER FALL GLEIWITZ (1960/1961) und BERLIN UM DIE ECKE (1965). Letzterer wurde im Zuge der Beschlüsse des 11. Plenums des ZK der SED mitten in der Produktion abgebrochen und konnte erst 1987 fertiggestellt werden.
1967 markierte das anti-faschistische Kriegsdrama ICH WAR NEUNZEHN den Beginn einer langjährigen kreativen Partnerschaft von Kohlhaase mit dem Regisseur Konrad Wolf. Bis zum Tod von Wolf im Jahr 1982 realisierten sie thematisch so unterschiedliche Filme wie DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ und SOLO SUNNY.
1982 adaptierte er Hermann Kants autobiografischen Roman DER AUFENTHALT für das Kino. Regie führte Frank Beyer, der auch als Regisseur von DER BRUCH (1988) – ebenfalls nach einem Drehbuch von Kohlhaase – verantwortlich zeichnete. Die Hauptrollen des Films wurden mit den bekannten westdeutschen Schauspielern Götz George und Otto Sander besetzt. Nach dem Fall der Berliner Mauer führten Beyer und Kohlhaase ihre erfolgreiche Zusammenarbeit fort.
In den 1990er Jahren schrieb Kohlhaase in erster Linie Drehbücher für Fernsehfilme, so z.B. für die Neuverfilmung des Theaterstücks "Der Hauptmann von Köpenick" mit Harald Juhnke in der Titelrolle. Mit Beginn des neuen Jahrzehnts wendete er sich wieder vermehrt dem Kino zu – beginnend mit dem Drehbuch zu Volker Schlöndorffs hochgelobtem Film DIE STILLE NACH DEM SCHUSS, der die Geschichte einer RAF-Terroristin, die bis zur Wende in der DDR untertaucht, nachzeichnet.
2004 folgte das Drehbuch zu dem vielfach ausgezeichneten Arthouse-Erfolg SOMMER VORM BALKON von Andreas Dresen. 2007 kooperierten Kohlhaase und Dresen erneut erfolgreich – bei der Komödie WHISKY MIT WODKA, in der Henry Hübchen als alternder, den Frauen und dem Alkohol nicht abgeneigter Schauspieler darum kämpfen muss, nicht aufs Abstellgleis geschoben zu werden.
Neben seiner Tätigkeit als Drehbuchautor gibt Wolfgang Kohlhaase Kurse zum Drehbuchschreiben an verschiedenen Hochschulen. 1972 wurde er Mitglied der Akademie der Künste der DDR. 1991 wurde er in die Akademie der Künste Berlin-Brandenburg aufgenommen. Auf der Berlinale 2010 erhielt Kohlhaase den Goldenen Ehrenbären, im Jahr darauf wurde er vom Verband deutscher Drehbuchautoren VDD zum Ehrenmitglied ernannt. Ebenfalls 2011 wurde er beim Deutschen Filmpreis mit dem Ehrenpreis für hervorragende Verdienste um den deutschen Film ausgezeichnet.
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Wolfgang Kohlhaase
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